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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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anderen verbarg, und das hasste ich. Wie verbale Geschwüre, die man mit einem Skalpell rausschneiden muss, wenn sie nicht ausgesprochen werden.
    Im Krankenhaus war sie nicht. Als er seinen letzten Schnaufer getan hatte, fuhr ich zu ihr nach Hause. Sie stand vor der Tür, den Schlüssel fest in der Hand. Ich sah sie von hinten, ihr leuchtend blondes Haar, die strengen Schultern, den schmalen Körper in dem türkisfarbenen Kostüm.
    »Mama.«
    Ihr Gesicht, das sich zu mir umdrehte und mich an dem schmerzlichen himmelblauen Universum ihrer Augen teilhaben ließ. Ihre makellose Schönheit, ihre endgültige Schönheit.
    Ich machte einen Schritt auf sie zu.
    »Ich schaff es nicht.«
    »Was schaffst du nicht, Mama?«
    »Die Tür aufzumachen.«
    Ich nahm ihr den Schlüssel aus der Hand. Er war warm und verschwitzt und roch nach Metall. Es ist klar, dass Schlüssel nach Metall riechen. Bis auf die aus Plastik, mit denen Kinder spielen. Ich drehte den Schlüssel entschlossen im Schloss. Zwei Mal. Drei Mal. Erst dann gab unsere alte, schwarze Tür mit einem rauen Knarren nach und ließ sich öffnen. Meine Mutter trat ein. Ich hingegen drehte mich um und schaute auf die Stadt zurück, die draußen blieb, und ich merkte, dass auch sie im Sterben lag. Der Himmel war bleich und körperlos, wie ein Kranker im Endstadium. Ich schloss die Augen und betete darum, dass jemand dem Kosmos den Gnadenschuss verpassen würde.
    An einem gewissen Punkt gibt es einen Moment. Einen Moment, wie gemacht für die Depressiven, in dem der Überlebensinstinkt nicht mehr zu bremsen ist, weil es dich nervt, die einzige unbewegliche Sache im trunkenen Willenswirbel des Universums zu sein.
    Wenn das hier eine Liebesgeschichte wäre, dann wäre ich in genau diesem Moment einem semmelblonden Engländer begegnet, und ein Streichquartett hätte die Musik dazu gespielt. Aber das hier ist keine Liebesgeschichte, auch wenn sie es gerne wäre und dafür zehn Kapitel und sogar eine Figur opfern würde, und wenn das nicht reicht, sogar zwei Repliken pro Dialog, aber insgesamt reicht es auch so, sie soll schon aufhören zu betteln, weil ihr sowieso niemand die Liebesgeschichte abnehmen würde, das wissen doch alle, dass keiner die kleinen Mischlingshunde mit nach Hause nimmt, die dich aus Pappkartons auf dem Gehweg anflehen, sie zu lieben. Bei denen selbst die Damen mit der Anstecknadel der »Leeds Dog Care Society« am Revers nur kurz stehen bleiben, »Ach, wie süß« sagen und dann weitergehen.
    Jedenfalls fand mein Moment im Dezember des Jahres null, sprich 2007, statt, dem Tag der knallrosa Jacke. Nachts war ich vom Konzert der Atemgeräusche meiner Mutter aufgewacht. Sie schlief draußen vor meiner Tür, zusammengerollt wie ein Baby im Mutterleib. Das, was bei Tage einfach nur ein Einatmen und Ausatmen war, das man nicht weiter beachten musste, nahm bei Nacht eine prähistorische Körperlichkeit an.
    Ich setzte mich neben sie.
    Mein Blick sagte ihr: Komm, geh in dein Zimmer, Mama, der Boden ist kalt. Sie hauchte mir nur ein wortloses Lass mich in Frieden zu.
    Es muss sieben Uhr morgens gewesen sein, aber draußen war es sowieso noch stockdunkel, wie zu jeder ehrenwerten Tages- und Nachtstunde in Leeds. Stunden, an denen es hell ist, werden hier zum Opfer von Rassismus, indem man sie einfach hinter geschlossenen Rollläden einsperrt wie in einem Ghetto.
    Jedenfalls kam er genau da, der Moment, als ich mich über meine Mutter beugte, ihr beim Einschlafen zuschaute und hörte, wie sie wieder ihr Atmen im Zweivierteltakt aufnahm, da war er, dieser Moment des ungebremsten Überlebenswillens. In einem Moment wie diesem kann man einfach nicht gleichgültig sein. Entweder hilfst du ihm mit einem Schlag Leben nach, oder du wäschst ihn mit deinem Blut.
    Wenn man davon ausgeht, dass der Überlebensinstinkt der vulgärste aller menschlichen Instinkte ist, und dass ich wie Jesus mehr von der Kreuzigung angezogen wurde, wo sollte ich denn am frühen Morgen die Judäer auftreiben, die bereit waren, mich zu verurteilen und sich an meinem Martyrium zu ergötzen? Schließlich gibt es ohne Publikum kein Martyrium. Und so kam es, dass ich am Ende beschloss, shoppen zu gehen.
    Leeds steckte wie gelähmt in einem orthopädischen Mieder aus Schnee, es gab keine Dächer und keine Wiesen mehr, und es schneite immer weiter. Die spitzen Kirchtürme, die im Herbst noch aussahen wie schwarze Hexenkrallen, waren jetzt nur noch zerbrechliche, unpersönliche Gebilde, die am Himmel
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