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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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langen Ärmel und einen Ausschnitt, der bis zum Nabel ging. Die Abnäher am Busen waren viel zu hoch und so spitz, als hätte die Trägerin des Kleides anstelle von Brüsten zwei dieser Pyramiden, die sich manche Leute auf den Schreibtisch stellen, um ihr Gedächtnis zu verbessern.
    Das Kleid nahm ich auch mit. Stop. Dieser Moment muss unbedingt einen Namen bekommen. Ich mache es so wie mit einem Hund: Ich gebe ihm einen Namen, damit er immer zu mir zurückkommt. Und so taufe ich diesen Moment den Anfang des Jahres null.
    Davor war folglich das Jahr minus eins.
    Davor das Jahr minus zwei.
    Noch davor das Jahr minus drei.
    Beim Jahr minus drei höre ich auf zu zählen, weil da mein Vater gestorben ist.
    Als ich heimkam, lag meine Mutter in Unterwäsche neben dem Küchentisch auf den Knien und versuchte ein Loch zu fotografieren, das die Holzwürmer in den Tisch gefressen hatten.
    Ich betrachtete ihre angespannten Beinmuskeln und die unbarmherzig schmale Säule ihres Rückgrats. Ich betrachtete ihren alten, verbrauchten Körper, der doch laut Einwohnermeldeamt erst sechsundvierzig Jahre alt war. Während sie die Kamera einstellte, bewegten sich ihre Wirbel am rachitischen Rücken. Knochen, so präsent und wach wie Tiere auf der Lauer. Ein viel zu frühes Memento mori aus reiner Erschöpfung. Sie stachen aus ihrer schlaffen Pseudohaut hervor, die fast durchsichtig war und an manchen Stellen blaue Flecken hatte, wie man sie bekommt, wenn man aus dem Bett fällt. Seit ein paar Monaten hatte sie keine Menstruation mehr. In einem Wort gesagt, meine Mutter war zum Wegschmeißen. Ich weiß, »zum Wegschmeißen« sind zwei Wörter, aber umso besser: eins für sie und eins für mich, denn wenn ich sie wegschmeißen muss, kann ich mich gleich mitschmeißen.
    »Jetzt hör doch mal mit diesen Fotos auf, Mama, ich mach jetzt das Fleisch.«
    Sie drehte sich zu mir um, und ihr Blick sagte mir: Warum lässt du mich nicht das Loch fotografieren?
    Ich antwortete ihr mit einem Blick, der sagte: Weil dir dieser Scheiß nicht guttut, das ist doch klar.
    Ihre Haare waren schmutzig, weil sie sie so lange nicht gewaschen hatte. Die breiten und struppigen Augenbrauen warfen einen dunklen Schatten auf die Lider. Ihre Augäpfel quollen aus dem ausgemergelten Gesicht wie zwei große, schneeweiße Schneckenhäuser. Die Farbe der Iris war nicht mehr als eine Schliere auf der milchigen Oberfläche einer Glühbirne. Ja, die Augen sind der Spiegel der Seele, aber die Seele meiner Mutter war mittlerweile nicht mehr eitel genug, um sich im Spiegel zu betrachten.
    Ich steckte den Fotoapparat in das Etui aus Kunstleder zurück. Sie ließ es mit niedergeschlagenem Blick zu. Dann ging ich in die Küche und holte die Schnitzel aus dem Gefrierfach. Ich legte sie in die Mikrowelle und beobachtete durch das Guckfenster, wie sich die blutigen Fleischscheiben langsam um sich selbst drehten, wie lebendige Organe, die sich mutig aus einem Körper gewagt haben, weil sie eine Runde Karussell fahren wollen. Aus dem Wohnzimmer kam jetzt wieder das Geräusch des Blitzes.
    Ich streute Gewürze auf das Fleisch, richtete es auf Tellern an und schnitt ihre Portion so lange klein, bis meine Serienmördergelüste befriedigt waren. Ich machte den Kühlschrank auf, um Wasser herauszuholen, aber da stand nur eine Flasche Heineken von meinem Vater, in der sich mittlerweile ein ganzes Disneyland aus seltsamen braunen Organismen tummelte. Wenn ich sie fixierte, bewegten sie sich. Ich warf die Flasche in den Müll.
    Und holte sie wieder heraus.
    Ich stellte sie in den Kühlschrank zurück. Zwischen der durchsichtigen Frischhaltedose, in der wir früher italienischen Käse aufbewahrten (und auf dem jetzt eine dicke Schimmelschicht lag) und dem leeren Plastikherz, in dem wir den gewaschenen und geschnittenen Salat lagerten. Es heißt, wenn man in einen Kühlschrank schaut, begreift man, was für einer Familie er gehört.
    Dort war jedenfalls noch mehr Schimmel.
    Ich meine in dem leeren Plastikherz.
    Meine Mutter schlang das Schnitzel herunter, so wie die Tiger in den Tierfilmen, dann rülpste sie und wischte sich den Mund ab. Schließlich hob sie das magere Gesicht mit den vielen Falten, die aussahen wie das Netz der Londoner U-Bahn, nahm die Polaroid vom Tisch und ging hinaus.
    Schritte auf der Treppe.
    Noch ein Rülpsen.
    »Sie hörten Casta Diva. An der Flöte Livia Mega. Hier spricht Pearl Radio.«
    Und da soll ich nicht von meinem Teller mit kaltem Fleisch aufstehen?
    Ich hatte
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