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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Autoren: Kai Meyer
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Bücher, die so alt und eingestaubt waren, dass selbst Herr Fleck ihre Existenz beinahe vergessen hatte. Diese Ecke des Archivs befand sich tief unter dem Marktplatz, im hintersten Winkel eines zweiten Kellergeschosses, das sich unter den eigentlichen Gewölben erstreckte. Der Staub lag hier knöchelhoch, und es gab Spinnweben, die seit zweihundert, dreihundert Jahren hier hingen.
    Ganz kurz spürte Herr Fleck einen Anflug von Furcht. Wenn hier unten seine Taschenlampe versagte, saß er in völliger Finsternis fest. Hierher fiel kein noch so ferner Schein der Schreibtischlampe, und es würde wahrscheinlich Stunden dauern, bis er tastend und kriechend die Treppe nach oben wieder fände.
    Aber noch funktionierte die Lampe einwandfrei.
    Allein die ungewohnte Kälte erregte weiterhin die Besorgnis des Archivars.
    »Hallo?«, fragte er in die Dunkelheit jenseits der nächsten Bücherregale. »Ist da jemand?«
    Das war albern, natürlich. Niemand kam hierher. Falls doch, so hätte Herr Fleck es längst bemerkt.
    Nein, er war allein hier unten. Menschenseelenallein. Und zum allerersten Mal, seit er für das Archiv verantwortlich war, machte ihm dieser Gedanke Angst.
    Du wirst alt, dachte er. Verdammt alt.
    Aber er wusste auch, dass Kyra und die anderen an Dingen rüttelten, die Schlimmes nach sich ziehen mochten. Die Welt der Geister und Dämonen war nicht fair. Sie war nicht gerecht und niemals nachsichtig. Dort gab es kein Mitleid, und jede Schuld wurde gnadenlos eingetrieben.
    Herr Fleck hatte die Taschenlampe auf einem Regal abgelegt, sodass sie genau in das Buch leuchtete, das er aufgeschlagen in Händen hielt. Es war einer der ältesten Bände des Archivs, handschriftlich verfasst und noch älter als jene Chronik, die er den Freunden gezeigt hatte. Er war darin auf etwas gestoßen. Auf eine Information, die so wichtig war, dass er sie Kyra und den anderen auf schnellstem Wege zukommen lassen musste. Ihr Schicksal und vielleicht das von ganz Giebelstein hing davon ab.
    Denn Herr Fleck hatte einen Weg gefunden, die Vogelscheuchen zu besiegen.
    Er schlug das Buch zu und klemmte es sich fest unter den Arm. Dann nahm er die Lampe und machte sich auf den Rückweg zu der schmalen Treppe, die hinauf in die obere Etage der Archivgewölbe führte.
    Doch bis dahin kam er nicht.
    Schlagartig zogen sich wenige Schritte vor ihm die Schatten zusammen. Graue Finsternis gerann zu absoluter Schwärze. Es sah aus wie ein Strudel, der die Dunkelheit aus der Luft sog, sie in sich aufnahm und daraus etwas Neues formte. Eine Öffnung. Ein Abgrund. Ein Tor in die Welt der Toten, der Verdammnis, des absolut Bösen.
    Und aus diesem Tor traten Wesen.
    Sie ähnelten Menschen und waren doch nicht mehr als vage Abbilder menschlicher Umrisse.
    Sie glühten wie Nebelschwaden, die hinterrücks von einem Flammeninferno beschienen wurden. Ihre Ränder zerfaserten, verdichteten sich wieder und drifteten abermals auseinander. Sie besaßen keine Gesichter, aber dort, wo ihre Stirn hätte sein sollen, war das Glühen in ihrem Inneren besonders intensiv – es war genau die Stelle, an der Boralus einst den Toten die Nägel eingeschlagen hatte.
    Der Archivar wich zurück. Eine Faust aus Eis schien sich um seine Kehle zu krallen; er wusste nicht, ob das nur ein Streich seiner Fantasie war oder ob tatsächlich die Geister mit unsichtbaren Klauen nach ihm griffen.
    Er presste das Buch fest an sich, fuhr herum und lief in die entgegengesetzte Richtung. Nur diese eine Treppe führte nach oben. Die Erscheinungen hatten ihm den einzigen Ausweg versperrt. Wie sollte er jetzt Kyra und ihre Freunde warnen, wie ihnen die lebenswichtigen Informationen überbringen?
    Er blieb stehen und schaute sich um. Gleich drei der unheimlichen Erscheinungen schimmerten in der Dunkelheit am anderen Ende des Ganges, dort, wo es zur Treppe ging. Sie folgten ihm nur langsam. Sie wussten, dass er in der Falle saß. Sie würden sich Zeit lassen, ihn zu fangen und zu töten. Denn dass sie nur deshalb hier waren, daran zweifelte der Archivar keine Sekunde.
    Boralus – nur er konnte dahinter stecken.
    Boralus musste wissen, dass Herr Fleck etwas entdeckt hatte. Boralus, der Vielköpfige. Der Dämon aus den tiefsten Klüften des Orkus.
    Boralus, der Leichengott.
    Die Geister kamen nun von allen Seiten. Hinter den Regalen konnte Herr Fleck ihren fahlen, toten Schein erkennen. Sie bewegten sich entlang der benachbarten Büchergänge, waren unterwegs, ihm den Weg abzuschneiden.
    Was soll ich
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