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Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen

Titel: Sieben Siegel 06 - Die Nacht der lebenden Scheuchen
Autoren: Kai Meyer
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ja hergekommen«, sagte Nils.
    Sie schlichen über den dunklen Vorplatz. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft.
    Lisa rümpfte die Nase. »Das stinkt hier doch nicht nach Schweinestall, oder?«
    »Verwesung«, stellte Kyra fest.
    Nils, Chris und Lisa wechselten einen Blick, sagten aber nichts mehr. In solchen Augenblicken war Kyra nicht mehr sie selbst. Es gab wenig, was sie dann noch beeindrucken konnte. Allerdings war die innere Anspannung auch ihr deutlich anzusehen.
    Sie erreichten die Scheune und schauten durch einen breiten Spalt im Holz hinein. An den Wänden hingen allerlei Werkzeuge, manche für Reparaturen und zur Feldarbeit bestimmt, andere augenscheinlich aus der Zeit, als der Bauer noch selbst geschlachtet hatte. Schrecklich anzusehende Hackmesser und Knochensägen baumelten an spitzen Eisenhaken. Der Stahl der Klingen war blass und rostig, so, als wären sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden – was sie allerdings nicht ungefährlicher erscheinen ließ.
    »Mir wird schlecht«, stöhnte Lisa tonlos.
    »Geht mir genauso«, wisperte Chris.
    Eine Gestalt kauerte im Schneidersitz in der Mitte des Schuppens. Das musste der Mann sein, den sie suchten – Wolf! Um ihn brannten in einem Kreis sieben Kerzen.
    Er sah jung aus, nicht älter als Mitte dreißig. Dennoch war sein Haar schlohweiß, so, als hätte es durch einen tiefen Schock die Farbe verloren. Sein Körper war dürr und knochig, wie abgemagert.
    Wolf hatte das Gesicht nach unten gewandt. Die Freunde konnten nicht sehen, ob seine Augen geschlossen waren. Seine Hände ruhten mit den Handflächen nach oben auf seinen Knien. Hinter ihm erhob sich wie ein Altar aus Stahl und Rost ein gigantischer Mähdrescher.
    »Schläft der?«, fragte Nils leise.
    »Sieht aus, als würde er meditieren oder so was«, meinte Lisa.
    »Als wäre er in Trance«, sagte Kyra.
    Nils atmete auf. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass es dabei bleibt. Wenigstens wird er uns so nicht erwischen.«
    »Wo steckt Boralus?«, fragte Chris. »Oder ist er Boralus?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Kyra. »Seht mal, da liegt irgendwas vor ihm auf dem Boden.«
    Tatsächlich, jetzt entdeckten sie es alle. Es sah aus wie ein Stück Glas. Oder eine Spiegelscherbe. Auf der Oberfläche bewegte sich etwas, obwohl sich in dem Schuppen nichts regte.
    »Ich will sehen, was das ist«, sagte Kyra, und schon huschte sie zum Tor.
    »Du willst doch nicht etwa zu ihm reingehen?«, zischte Nils ihr aufgebracht hinterher.
    Doch da hatte Kyra das Tor bereits einen Spaltbreit aufgedrückt und war ins Innere der Scheune geschlüpft. Nils schlug sich fassungslos vor die Stirn, während Chris und Lisa gemeinsam einen tiefen Seufzer ausstießen. Trotzdem folgten die drei ihrer Freundin.
    Als sie sich durch den Torspalt drängten, näherte Kyra sich schon dem Kerzenzirkel und dem Mann in seiner Mitte. Noch immer rührte Wolf sich nicht.
    Nils fiel auf, dass auf einer Werkbank, die sie von außen nicht hatten sehen können, zahlreiche moderne Werkzeuge lagen. Da waren schwere Bohrmaschinen, eine Motorsäge, eine Nagelpistole und anderes technisches Gerät. Wolf musste also bis vor einiger Zeit noch seiner üblichen Arbeit nachgegangen sein. Zumindest war das ein Indiz dafür, dass er und Boralus nicht ein und dieselbe Person waren. Es sei denn, der Dämon hätte dem Bauern erst vor kurzem seinen Willen aufgezwungen.
    Kyra näherte sich noch immer dem Zentrum der Scheune. Sie wagte kaum zu atmen. Unweit der Kerzen ging sie vorsichtig in die Hocke, um in Wolfs vorgebeugtes Gesicht zu blicken.
    Seine Augen waren weit geöffnet.
    Erschrocken zuckte Kyra zurück, taumelte zwei Schritte nach hinten. Dabei prallte sie rückwärts gegen Chris. Beide wären gestürzt, hätten Lisa und Nils sie nicht aufgefangen.
    Wolf bemerkte nichts davon. Er starrte weiterhin wie gebannt vor sich auf den Boden, geradewegs in die gezackte Spiegelscherbe.
    »Er ist in Trance«, stellte Kyra fest. Ihr Atem raste jetzt vor Aufregung.
    »Du meinst wirklich, er kann uns nicht hören?«, flüsterte Lisa.
    »Im Augenblick nicht.«
    Auch Chris pirschte sich nun an den Sitzenden heran. Kyra folgte ihm eilig.
    Sehr langsam, sehr vorsichtig betraten sie den Kerzenzirkel. Während Lisa und Nils wie gebannt zuschauten, beugten sich die beiden vor, um einen Blick auf die Oberfläche der Spiegelscherbe zu erhaschen.
    Grelle Lichter zuckten über das Glas. Aber es waren keine Spiegelungen. Es sah aus, als wären sie im Glas. Oder dahinter.
    Kyra
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