Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sieben

Sieben

Titel: Sieben
Autoren: Mark Frost
Vom Netzwerk:
kürzlich einen großen Verlust erlitten hatten oder befürchteten, einen solchen zu erleiden.
    Ein Unschuldiger. Ein Ehemann oder Kind. Der ihre? Das ihre? Die angegebene Adresse befand sich im East End, nahe Bethnal Green. Ein heißes Pflaster. Kein Ort, an den sich hoch-wohlgeborene Damen allein vorwagten. Für einen selbst inmitten schlimmster Ungewißheit von Zweifeln größtenteils freien Menschen mußte seine Reaktion feststehen.
    Bevor er sich wieder der Blavatsky zuwandte, beschloß Dr. Arthur Conan Doyle, seinen Revolver zu reinigen und zu laden. Es war der erste Weihnachtstag des Jahres 1884.
    Die Wohnung, in der Doyle zur Miete lebte und arbeitete, lag im zweiten Stock eines alten Hauses in einem Arbeiterviertel Londons. Das bescheidene Quartier bestand aus einem Wohnzimmer und einem beengten Schlafraum und wurde von einem anspruchslosen Menschen mit begrenzten Mitteln und festem, selbstsicherem Charakter bewohnt. Von Natur aus - und nun auch in der Praxis - zum Heiler geboren und seit drei Jahren praktizierender Chirurg, war Arthur Conan Doyle ein junger Mann, der sich dem sechsundzwanzigsten Lebensjahr näherte und kurz vor der Aufnahme in jene stillschweigende Verbindung stand, deren Angehörige trotz des Wissens um ihre eigene Sterblichkeit nicht aufgaben.
    Sein ärztlicher Glaube an die Unfehlbarkeit der Naturwissenschaften war zwar tief verwurzelt, doch zerbrechlich und von einem Spinngewebe aus Fehltritten gesäumt. Obwohl vor einem Jahrzehnt aus der katholischen Kirche ausgetreten, existierte in ihm noch immer der Glaubenshunger. Seiner Meinung nach war es den exklusiven Fächern der Naturwissenschaft vorbehalten, die Existenz der menschlichen Seele empirisch zu beweisen. Und er rechnete fest damit, daß ihn die Wissenschaft irgendwann in die höheren Weihen spiritistischer Entdeckungen führte. Dennoch ging mit dieser unerschütterlichen Gewißheit ein wildes, schwereloses Sehnen nach Verzicht einher, ein Verlangen nach Demaskierung der willfährigen Realität, nach einer Verschmelzung mit dem Mystischen, einem Tod im Leben, der zu einem höheren Dasein führen sollte. Diese Sehnsucht spukte in seinem Bewußtsein umher wie ein Gespenst. Doch er hatte nie, kein einziges Mal, mit jemandem darüber geredet.
    Um seinen Hunger nach Hingabe zu stillen, las er die Werke Blavatskys, Emanuel Swedenborgs und einer Vielzahl anderer langatmiger Mystiker und kämpfte sich auf der Suche nach rationalen Beweisen und handfesten Bestätigungen, die er quantifizieren konnte, durch obskure Buchläden. Er hatte auch an den Versammlungen der Londoner Spiritistenallianz teilgenommen, hatte Medien, Hellseher und Parapsychologen aufgesucht, selbst Salon-Seancen durchgeführt und Häuser untersucht, in denen die Toten angeblich keine Ruhe gaben. Bei jeder dieser Gelegenheiten hatte Doyle seine drei Grundprinzipien angewandt: Observation, Präzision und Deduktion. Dies war das Fundament, auf dem er sein Selbstgefühl erbaut hatte. Er hielt seine Erkenntnisse nüchtern, geheim und ohne Schlußfolgerungen fest, als Präambel für ein größeres Werk, dessen Form sich ihm irgendwann im Laufe der Zeit enthüllen würde.
    Als sich seine Studien vertieft hatten, war das Gefühl des Hinundhergerissenseins zwischen Naturwissenschaft und Spiritismus, diesen beiden unversöhnlichen Gegensätzen, nur noch stärker, lauter und trennender geworden. Er hatte trotzdem weitergemacht. Er wußte nur zu gut, was denjenigen passieren konnte, die sich in diesem Kampf aufgaben: Auf der einen Seite standen die selbsternannten Säulen der Sittlichkeit, die als Schutzwälle von Kirche und Staat fungierten und eingeschworene Gegner der Veränderung waren. Sie waren zwar innerlich schon längst tot, aber ihnen fehlte die Vernunft, sich hinzulegen. Ihnen gegenüber standen die zahllosen armen Tröpfe, mit Ketten an die Wände der Irrenhäuser gefesselt. Sie waren mit ihrem eigenen Schmutz bekleidet, und ihre Augen brannten, wenn sie mit illusionärer Perfektion mit sich zu Rate gingen. Doyle sah davon ab, eine subjektive Wertung der beiden Extreme vorzunehmen: Er wußte, daß der Weg zur menschlichen Vervollkommnung - der Weg, den er zu gehen beabsichtigte -genau dazwischen lag. Und es blieb seine Hoffnung, daß ihm, falls die Wissenschaft nicht in der Lage war, ihm den Mittelweg aufzuzeigen, der Spiritismus unter Umständen den Weg dorthin weisen konnte.
    Dieser Beschluß hatte zwei unerwartete Ergebnisse hervorgebracht: Zum einen wollte er, wenn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher