Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sieben

Sieben

Titel: Sieben
Autoren: Mark Frost
Vom Netzwerk:
sich schnell zurückzog. Dabei hätte ihm die vom Zahn der Zeit angenagte Treppe jeden Besucher wie ein Fanfarenstoß ankündigen müssen. Konnte die Beschäftigung mit der Blavatsky seine Sinne dermaßen eingeengt haben? Unwahrscheinlich. Selbst im Chirurgentheater, bei den angeschnallten Sterbenden, die um sich spuckten und einen anschrien, vernahm er noch, wie eine nervöse Katze, jeden Laut.
    Trotzdem, der Umschlag war da. Vielleicht lag er sogar schon ... Es war jetzt zehn Uhr ... seit einer guten Dreiviertelstunde dort. Vielleicht war der Kurier aber auch gerade erst angekommen und stand jetzt regungslos vor seiner Tür.
    Der Arzt lauschte nach Lebenszeichen, spürte, daß der Schlag seines Herzens sich beschleunigte und empfand den beißenden, irrationalen Geruch der Angst. Er war ihm nicht fremd. Leise zog er seinen dicksten Spazierstock aus dem Schirmständer, umklammerte ihn fest, hielt ihn vor sich und öffnete mit dem knorrigen, geschwärzten Griff die Tür.
    Das, was er im flackernden Gaslicht des Korridors sah oder nicht sah, sollte für ihn noch lange Zeit ein Thema privaten Haders bleiben: In dem Moment, als die Tür die Luft ansaugte und nach innen schwang, fegte mit der Schnelligkeit, mit der ein Zauberer ein schwarzes Seidentaschentuch von einer elfenbeinfarbenen Tischdecke reißt, ein diffuser Schatten aus dem Hausflur. Jedenfalls kam es ihm in diesem Augenblick so vor. Der Hausflur war leer. Er nahm nicht den geringsten Sinneseindruck von der Person wahr, die gerade noch da gewesen sein mußte. Von irgendwo ertönte das Winseln einer falsch gestimmten Violine, und aus etwas weiterer Ferne drangen das Greinen eines kolikgeplagten Säuglings und Hufschlag auf Straßenpflaster an sein Ohr.
    Die Blavatsky spielt mir Streiche, dachte der Arzt. Das hat man davon, wenn man ihre Werke nach Einbruch der Dunkelheit liest. »Ich bin beeinflußbar«, murmelte er, als er sich in seine Wohnung zurückzog, die Tür abschloß, den Stock wieder an seinen Platz legte und sich auf das konzentrierte, was anstand. Der Umschlag war quadratisch. Keine Anschrift. Er hielt ihn gegen das Licht. Das Papier war dick, undurchsichtig. Es sah äußerst gewöhnlich aus.
    Er entnahm seiner Arzttasche eine scharfe Lanzette und öffnete mit der chirurgischen Exaktheit, die ihn in seinem Beruf auszeichnete, die Umschlagfalz. Ein einzelnes Blatt Briefpapier, dünner als der Umschlag, jedoch zu ihm passend, glitt mühelos in seine Hand. Obwohl es von keinem Wappen oder Monogramm geziert war, handelte es sich eindeutig um das Briefpapier eines Herrn oder einer vornehmen Dame. Der Bogen war einmal gefaltet. Er klappte ihn auf und las:
    SIR:
    Ihre Anwesenheit ist in einer Angelegenheit, die die betrügerische Anwendung der spiritistischen Kunst betrifft, äußerst dringend erforderlich. Man weiß von der Sympathie, die Sie den Opfern solcher Abenteuer entgegenbringen. Ihr Beistand für jemanden, der hier ungenannt bleiben muß, ist unerläßlich. Als Mann Gottes und der Wissenschaft erflehe ich Ihr rechtzeitiges Erscheinen. Es geht um ein unschuldiges Leben. Morgen abend, 8.00 Uhr, 13 Cheshire Street.
    GODSPEED
    Zunächst die Schrift: saubere und präzise Blockbuchstaben, eine gebildete Hand. Die Worte tief ins satte Pergament gemalt; die Feder fest im Griff; die Hand fest aufgesetzt. Obwohl nicht in Eile geschrieben, vermittelten die Zeilen das Gefühl von Dringlichkeit. Geschrieben vor etwa einer Stunde.
    Es war nicht das erste Schreiben dieser Art, das der Arzt erhalten hatte. Sein Feldzug, der sich gegen betrügerische Medien richtete, war gewissen dankbaren Kreisen der Londoner Gesellschaft wohlbekannt. Er war weder ein Mann der Öffentlichkeit, noch suchte er nach gesellschaftlicher Anerkennung.
    Obwohl sehr darauf bedacht, eine etwaige Prominenz zu verhindern, drang hin und wieder eine Nachricht über seine Tätigkeit an die Ohren jener, die in Bedrängnis waren. Doch dieser Appell war bis jetzt eindeutig der dringlichste.
    Der Brief war geruchlos und unparfümiert. Keine identifizierbaren Schnörkel. Die Person, die ihn geschrieben hatte, war eifrig darauf bedacht gewesen, so geschlechtslos zu erscheinen wie das Papier. Hier hatte man absolute Anonymität zu wahren versucht.
    Eine Frau, sinnierte er. Wohlhabend, gebildet; sie fürchtet sich vor einem Skandal. Verehelicht oder verwandt mit einem Mann von Einfluß oder Stand. Eine Dilettantin in den Untiefen der »spiritistischen Kunst«. So ließen sich oft jene beschreiben, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher