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Sieben

Sieben

Titel: Sieben
Autoren: Mark Frost
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Zusicherung, daß der geliebte Verblichene unversehrt am anderen Ufer des Styx angekommen war. Die Aufgabe des Geistführers bestand vornehmlich darin, den Kontakt zu beurkunden, indem er von Tante Minnie oder Bruder Bill einen Nachweis verlangte - meist in Form einer persönlichen Anekdote -, die außer dem Verstorbenen und dem Trauernden niemandem bekannt war.
    Als Reaktion auf solch einfache Anfragen entströmten daraufhin dem Geist mittels einer Reihe von Klopfgeräuschen auf einem Tisch die Informationen. Vollendetere Medien verfielen in einen Trancezustand, in dem sich der Geistführer ihre Stimmbänder »auslieh« und das Organ des lieben Verstorbenen mit überraschender Akkuratesse nachahmte. Einige zeigten ein noch selteneres Talent: Sie produzierten große Mengen milchigen, formbaren Dunstes, der aus Haut, Mund und Nase quoll; eine Substanz, die zwar äußerlich wie Rauch aussah und auch dessen Eigenschaften aufwies, aber kein solcher war. Weder löste sich die Substanz auf, noch reagierte sie auf atmosphärische Gegebenheiten. Sie benahm sich eher wie eine dreidimensionale Tabula rasa, die die Fähigkeit aufwies, die Form jedes Gedankens oder jeder Entität anzunehmen. Tante Minnie auf den Tisch pochen zu hören oder sie in einer Wolke klumpigen, autonomem Nebels vor sich Gestalt annehmen zu sehen, waren zwei verschiedene Dinge. Das eigenartige Zeug wurde
Ektoplasma
genannt und bei unzähligen Gelegenheiten fotografiert. Es war unerklärbar.
    Neben den Trauernden und Verwirrten verlangten auch zwei weitere, kleinere Gruppen fortwährend nach den Diensten der medial Geneigten. Von vergleichbaren Impulsen motiviert - wenn auch mit diametral entgegengesetzten Zielen - trennten sie sich an einer deutlichen Demarkationslinie: Sucher des Lichts und Anbeter der Finsternis. Doyle zum Beispiel wurde von der Überzeugung angetrieben, derzufolge man, falls es gelang, die Sphäre des Wissens zu durchdringen, in die Nähe der ewigen Geheimnisse von Gesundheit und Krankheit vordringen konnte. So hatte er den bis ins letzte Detail dokumentierten Fall eines gewissen Andrew Jackson Davis erforscht, eines amerikanischen Analphabeten, der 1826 geboren worden war und lange vor seinem zwanzigsten Lebensjahr an sich die Fähigkeit entdeckt hatte, Krankheiten durch Einsatz seiner
Geistaugen zu
diagnostizieren. Dies war ihm gelungen, indem er den menschlichen Körper als transparent und dessen so sichtbar werdende Organe als Zentren von Licht und Farbe wahrnahm, deren Farbtöne und Schattierungen mit seinem Wohlbefinden oder dem Mangel daran korrespondierten. Mit Hilfe einer solchen Fähigkeit, so nahm Doyle an, dürfte es eines Tages möglich sein, einen Blick auf das kommende, zukünftige Genie der Medizin zu werfen.
    Die Jünger der Finsternis hingegen strebten danach, die Geheimnisse der Jahrtausende zu ihrem privaten exklusiven Nutzen zu entschlüsseln. Zum Vergleich möge man sich nur vorstellen, die Pioniere des Elektromagnetismus hätten beschlossen, ihre Entdeckung für sich selbst zu behalten. Bedauerlicherweise - und dies sollte Doyle noch erkennen -waren die Angehörigen dieser Gemeinschaften bedeutend besser organisiert als ihre Gegenspieler, und sie waren ihrem Ziel ein gutes Stück nähergekommen.
    An diesem Abend, zur gleichen Zeit, torkelte knapp eine Meile entfernt von den Ereignissen, die in der Cheshire Street 13 noch ihren Lauf nehmen sollten, eine arme und elende Hure aus einem Pub am Mitre Square. Der zweite Weihnachtstag war ein völliger Reinfall gewesen; die wenigen Münzen, die sie für ihre Dienste eingenommen hatte, hatte sie schnellstens wieder ausgegeben, um ihren unlöschbaren Durst zu stillen.
    Ihr Auskommen hing von der Dringlichkeit ab, jene Menge billigen Gins zu besorgen, die Jammergestalten wie sie benötigten. Denn er allein bot dieses dürftige Maß an Trost, welcher das schale Gefühl vergessen machte, das dreiminütiger Geschlechtsverkehr in nach Abfällen und Abwässern stinkenden Einfahrten hinterließ. Ihre Schönheit war längst verblaßt. Sie unterschied sich durch nichts von den zahllosen anderen ihres Gewerbes, die sich in den Niederungen Londons herumtrieben. Ihr Leben hatte in irgendeinem ländlichen Idyll seinen Anfang genommen, wo sie einst die Freude ihrer Eltern und das hübscheste Mädchen des Dorfes gewesen war. Hatten ihre Augen geglitzert, hatte ihre Haut vor Gesundheit gestrotzt, als sie für den vorbeiziehenden Schäfer, der den schönen Schein der Großstadt in ihr
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