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Sieben

Sieben

Titel: Sieben
Autoren: Mark Frost
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er ein Kind gegen Koliken behandelt hatte, und auf die üppigen, grünen Felder und den kristallklaren Ozean hinabblickte und die Sonne durch eine sensationelle Zirruswolke brach, wurde ihm schlagartig klar, daß er seit mehr als einem Tag nicht mehr an Jack, Eileen oder die grauenhafte Nacht im Moor gedacht hatte.
    Es geht aufwärts mit dir, diagnostizierte Doyle.
    Gegen Ende des Sommers zog sich ein junger Knecht aus der Ortschaft, Tom Hawkins, ein starker und vitaler Bursche, der sehr beliebt war, eine Hirnhautentzündung zu. Doyle reagierte auf die ernsthafteste Herausforderung seiner medizinischen Laufbahn, indem er den jungen Mann in sein eigenes Haus holte, um sich gründlich um ihn zu kümmern. Toms Schwester Louise, eine stille, attraktive Frau von Anfang Zwanzig, die ihrem Bruder entschieden zugetan war, zog mit ihm ein. Die gemeinsame Zuneigung zu Tom und seine immense Würde gegenüber dem unausweichlichen Tod, dem schon bald nichts mehr entgegenzusetzen war, brachten Doyle und Louise einander näher; näher, als jeder für sich je einer anderen Person gekommen war. Als Tom drei Wochen später in ihren Armen starb, bestand seine letzte Tat darin, Louises Hand zu nehmen und sie sanft in die Doyles zu legen. Noch im gleichen Sommer heirateten sie. Im folgenden Frühjahr wurde ihr erstes Kind geboren, die Tochter Mary Louise.
    In einem unübertroffenen Gefühl von Zufriedenheit und Sicherheit in Sachen Privatleben fand sich Doyle erstmals in der Lage, mit einiger Zuversicht über die Zeit nachzudenken, die er in Jacks Gesellschaft verbracht hatte. Er wußte, daß keiner der Adeligen oder Regierungsbeamten, denen Jack gedient hatte, je öffentlich über seinen Beitrag sprechen durfte, aber schließlich hatte er auch nie eine persönliche Belohnung gesucht oder erwartet.
    Nachdem Doyle dies erkannt hatte, wurde ihm nach vielen langen Diskussionen mit seiner geliebten Louise endlich klar, daß das, was ihn am meisten belastete und seine wachen Stunden quälte, der Gedanke daran war, daß dieser muntere, ritterliche und außergewöhnliche Mensch, der sein Leben selbstlos für Königin und Vaterland geopfert hatte, der Vergessenheit anheimfallen könnte, ohne daß man ihm dafür auch nur einen Moment der Anerkennung zollte. Dies war eine fundamentale Ungerechtigkeit. Obwohl Doyle der Königin in dieser Angelegenheit seinen persönlichen Dienst und seine Verschwiegenheit geschworen hatte und sie ihn in den vor ihm liegenden Jahren wiederholt um Beistand bitten würde, ersann Doyle schließlich einen Weg, dem geschworenen Eid Genüge zu tun und dem Angedenken des verstorbenen Jonathan Sparks dennoch Tribut zu zollen.
    Als seine Gattin und das Kind an diesem Abend sicher in ihren Betten lagen, griff Doyle nach dem Federhalter, den die Königin ihm geschenkt hatte. Und dann begann er, eine Geschichte über ihren gemeinsamen, geheimnisvollen Freund zu schreiben.

Epilog
    »DA ... DA UNTEN an den Felsen ist der Fluß tief. Und die Strömung darunter auch. Und schnell. Die Leichen, die findet man nicht immer.«
    Doyle steht auf dem hölzernen Plankenweg am Abgrund und schaut auf die Reichenbach-Fälle, während der Schweizer Führer, ein breitgesichtiger, herzlicher junger Mann, auf den Katarakt unter ihnen deutet.
    »Manche Leute springen nämlich hier runter«, erklärt der Führer. »Meist sind es Frauen. Liebeskummer. Es waren viele in den letzten Jahren.« Der Mann schüttelt in einer ernsten Zurschaustellung von Verzweiflung den Kopf.
    »Ach so«, sagt Doyle.
    »Sehr trauriger Ort.
    »Ja. Sehr traurig.«
    Es ist ein heller Morgen im April des Jahres 1890. Nachdem schriftstellerische Erfolge sein Leben für immer verändert haben, erfreuen sich Dr. Doyle, Louise und ihre dreijährige Tochter einer ersten Auslandsreise.
    »Hat es schon einmal jemand überlebt?« fragt Doyle.
    Der Führer runzelt die Stirn. »Eine Frau, ja. Sie kam raus, sieben Kilometer flußabwärts. Ich weiß ihren Namen nicht mehr.« Doyle nickt und läßt den Blick über das schlammige Wasser schweifen.
    Weiter unten am Plankenweg, wo sie mit ihrer Mutter herumschlendert, ist Klein-Mary Louise vom Anblick eines Kindes in einem vorbeikommenden Kinderwagen fasziniert.
    »Mami, guck mal, das Baby«, ruft sie und beugt sich über den Wagenrand, um das Kind anzusehen.
    Auch diese Eltern, ein gewöhnliches Ehepaar aus der unteren Mittelschicht, verleben seit der Geburt ihres Sohnes vor einem Jahr ihren ersten Urlaub. Der Vater, Alois, ist Zollbeamter;
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