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Sieben

Sieben

Titel: Sieben
Autoren: Mark Frost
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Da gibt es auch 'n Wasserfall, den man sich anschauen kann. Die Reichenbach-Fälle. Fünf Stück. Über zweihundert Fuß hoch.«
    Larry bat um einen weiteren Brandy. Zeus schaute aufmerksam zu, als Doyle einschenkte und Larry ihn trank.
    »Wir kommen also an. Überprüfen das Hotel am Wasserfall. Ja, das fragliche Paar is seit zwei Tagen hier. Wir schaun' uns ihr Zimmer an. Anzeichen von Leben, aber niemand is da. Jack sagt, ich soll an der Tür warten, er geht mal eben auf die andere Seite. Etwas Zeit vergeht. Ich krieg 'n komisches Gefühl im Nacken, also renn' ich raus. Da ist 'n Pfad, der zum Berg führt, da geht man rauf, wenn man sich den Wasserfall ansehn will. Und da seh' ich, wie Jack den Pfad raufläuft. Und ich renn' ihm hinterher, so schnell ich kann.
    Ich hab' ihn grad aus'n Augen verloren, als ich vor mir 'n Pistolenschuß hör'. Ich renn' weiter, komm um 'ne Ecke, und da oben, auf der nächsten Serpentine, die über den Berg geht, keine fünfzig Fuß vor mir, seh' ich Jack, wie er mit 'nem Mann in Schwarz ringt, und ich weiß sofort, das is Alexander. Hab keine Ahnung, wer geschossen hat, aber beide sehn unverletzt aus. Ich hab noch nie gesehen, daß sich zwei Männer so voller Haß an die Kehle gingen. Sie sind beide gleich stark, schlagen sich, beide haben blaue Flecken und bluten, aber keiner hört auf oder gibt Fersengeld. Ich schäm' mich, wenn ich sagen muß, daß mich der Anblick gelähmt hat, aber ich konnt' mich nich von der Stelle rühren.
    Wie ich also zuschaue, seh' ich, daß Jack 'n kleinen Vorteil kriegt, 'n so dünnen Spielraum, daß man ihn nich messen kann. Und das Blatt wendet sich leicht zu seinen Gunsten. Alexander macht 'n Schritt zurück, will seine Hacken am Rand in die Erde drücken, aber der Boden unter ihm gibt nach, 'n Schauer von Gestein und Erde bricht ab, und er verliert das Gleichgewicht. Er hängt für 'n unendlichen Augenblick am Steilfelsenrand. Und dann fällt er.
    Grad' als er in dem schwarzen Schlund verschwinden will, streckt er 'n Arm aus und packt Jack am Stiefel. Jack strauchelt und hält sich fest, aber Alexanders Gewicht zieht ihn über den Rand, und ich seh', wie sie fallen, Sir, nach unten, die ganze weite Strecke. Nach unten, bis der Wasserfall sie ganz und gar verschluckt...«
    Ein heißer Tränenstrom lief nun über Larrys Gesicht. Doyle saß wie erstarrt da.
    »Hat man ... Hat man ihre Leichen gefunden?«
    »Ich weiß nich, Sir, weil im nächsten Moment 'n Schuß vor mir in den Boden gekracht is. Ich schau' auf und seh, wie die Höllenkatze über mir aufm Pfad steht und wieder anlegt ...«
    »Lady Nicholson?«
    »Ja, Sir. Da bin ich weggelaufen, und ich glaub', ich hab' erst angehalten, als ich am Bahnhof war und in den nächsten Zug gestiegen bin. Sie sehen also, ich weiß nich, Sir, ob man die Leichen gefunden hat. Aber es war 'n schrecklich tiefer Sturz, Sir, und ich hab die Felsen gesehen, zweihundert Fuß darunter, und ich fürchte sehr, daß Mr. Jack Sparks schon lange vor seiner Zeit von uns gegangen is; lange bevor das Gute, das 'n Mensch so wie er tun konnte, auch nur halb getan war.«
    Larry vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Doyle holte tief Luft, sein Brustkorb verkrampfte sich, ein feuchter Schleier in seinen Augen nahm ihm die Sicht. Er legte eine Hand auf die Schulter des armen Kerls, und dann weinte erffweinte, weil Jack gegangen war und sie nun beide in so kurzer Zeit ihre einzigen Brüder verloren hatten. Und dort, vor dem Feuer, verharrten die beiden Männer und verbrachten die längste aller Londoner Nächte.
    In den darauffolgenden Wochen, nachdem Doyle die Ereignisse an den Reichenbach-Fällen verdaut hatte, sehnte er sich allmählich nach der starren Behaglichkeit der nüchternen täglichen Routine. Er suchte sich eine Arbeitsstelle und nahm einen unbedeutenden Arztposten in der provinziellen Hafenstadt Southsea bei Portsmouth an. Er begann ein neues Leben und begrub seinen Kummer und seine Bestürzung unter einem Berg aus Einzelheiten und Routine, die für Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens der verschlafenen Gemeinde nötig waren. Die unglaubliche Normalität der Beschwerden seiner Patienten erwiesen sich für ihn als Tonikum. Schrittweise und so allmählich, daß sein Verstand es kaum wahrnahm, fiel das überwältigende Gefühl von Entsetzen und Verwirrung, das ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, von ihm ab.
    Als er eines Morgens vor einem kleinen, strohgedeckten Rotten stand, in dem
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