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Sich vom Schmerz befreien

Titel: Sich vom Schmerz befreien
Autoren: Klaus Weitzer
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sich ihren Weg zu verschiedenen Läden und hinterlassen Fußabdrücke. Mehr und mehr Menschen sind nun unterwegs und es entstehen Trampelpfade. Denn weil es leichter ist, benutzt jeder wenn möglich jene Wege, auf denen vor ihm schon jemand gegangen ist. So ergibt sich bald ein Bild von breiten Wegen zwischen häufig besuchten Geschäften, vereinzelt entstehen Verbindungswege, die weniger ausgetreten sind. Bei anderen erkennt man, dass sie nur ab und zu benutzt wurden, und tatsächlich gibt es auch noch große Flächen mit einer unberührten Schneedecke, weil hier noch keiner gegangen ist.
    Nach einiger Zeit sieht der Platz aus wie eine Landkarte mit »Autobahnen«, »Landstraßen«, »Nebenstrecken«,
»Feldwegen« und »Sackgassen«. Wie die Karte aussieht, hängt davon ab, wie viele Leute darunter sind, die zielstrebig ähnliche Einkäufe erledigen. Sind sie in der Mehrzahl, führt eine »Autobahn« vom Supermarkt zum Bäcker, zum Metzger und zum Obstladen.
    Natürlich gibt es auch Menschen, die noch das Elektrofachgeschäft oder den Friseur aufsuchen. Zu ihnen führen kleinere »Straßen« durch den Schnee. Zum Kunsthändler verirrt sich kaum jemand, vielleicht hat sich einer mal verlaufen oder war neugierig. Diese schmalen, kaum gegangenen Wege sind auch schnell wieder zugeschneit. Viele Menschen nehmen Umwege in Kauf, um auf den einfacher zu gehenden und breiteren Straßen bleiben zu können, anderen macht es Spaß, durch den unberührten Schnee zu stapfen. Manche spulen gedankenlos ihr Routineprogramm ab, andere planen ihre Wege ganz bewusst.
    Wenn der geschilderte Platz für einen lebenden Organismus steht und die Menschen, die darauf gehen, für die bio-elektrischen Prozesse zur Steuerung der einzelnen körperlichen und psychischen Funktionen, Vorgänge und Tätigkeiten (symbolisiert durch die verschiedenen Geschäfte), erhält man eine ganz gute, wenn natürlich auch unvollständige Vorstellung davon, dass Gehirnaktivität gleichzeitig Veränderung bedeutet. Jedes Mal, wenn eine Funktion auf eine bestimmte Weise des Zusammenspiels der verschiedenen Bereiche des Nervensystems ausgeführt wird, wird ein bestimmter Weg gegangen. Das heißt, je häufiger dies geschieht, umso breiter wird er. Im Gehirn werden dann bestimmte Verbindungen stärker, man spricht von vermehrten »synaptischen Verschaltungen«. (Vermutlich kennen Sie die Redewendung, dass sich etwas »ins Gehirn eingegraben« hat.) Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit
größer, dass dieser Weg beim nächsten Mal wieder benutzt wird. So werden verschiedene Wege mehr oder weniger breit ausgetreten und gefestigt. Es entstehen Gewohnheiten und »Muster«, nach denen wir uns verhalten.
    Manchmal auch ist es erforderlich, einen neuen Weg zu gehen, also durch den Schnee zu stapfen, was zunächst schwierig ist. Einen neuen Weg zu bahnen bedeutet, eine neue Funktion zu lernen bzw. eine bekannte Funktion auf eine neue Art zu steuern. So gibt es auf unserer »Landkarte« viele Bereiche, in denen noch nie ein Mensch gegangen ist (das ist z.B. eine Tätigkeit, die noch nie auf eine bestimmte Weise ausgeführt wurde) oder Wege, die schon wieder etwas zugeschneit sind (z.B. Funktionen, die nicht mehr ausgeführt werden). Die Art, wie wir unser Gehirn gebrauchen, bestimmt die strukturelle Beschaffenheit der Verbindungen und damit die Wahrscheinlichkeit, wie wir es nächstes Mal gebrauchen werden. Jede neue Erfahrung verändert neuronale Verschaltungen und damit Aktivitäten. Das Gehirn und mit ihm der gesamte Organismus sind lebendige Prozesse ständiger Veränderung.
    Noch einmal: Die Art und Weise, wie sie aussehen, wird durch die Art und Weise bestimmt, wie sie gebraucht werden, was wiederum ihr Aussehen und Funktionieren bestimmt - das ist das Prinzip der Zirkularität. Der Weg entsteht beim Gehen! Tatsache ist also, dass zwar die Gehirne und Nervensysteme aller Menschen aus den gleichen Bausteinen bestehen, dass jedoch jedes System einmalig ist, anders aussieht und anders funktioniert, wobei es sich ständig verändert. Dieses Bild des Trampelpfades wird uns von nun an durch das gesamte Buch begleiten.
    Welche Bedeutung haben diese neurowissenschaftlichen Erkenntnisse für uns? Natürlich kann man die strukturelle Beschaffenheit und das Verhalten des Nervensystems, und damit die Prozesse zur Steuerung von
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