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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram
Autoren: Gregory David Roberts
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erblickte ich Prabakers breites, weltumfassendes Lächeln in dem kleinen runden Gesicht.
    »Baby dijiye?«, fragte ich. Kann ich ihn halten?
    Parvati nickte. Ich streckte die Arme aus, und der Junge kam ohne Scheu zu mir und ließ sich hochnehmen.
    »Wie heißt er?«, fragte ich, ließ ihn auf meiner Hüfte hopsen und betrachtete freudig sein Lächeln.
    »Prabu«, antwortete Parvati. »Wir haben ihn Prabaker genannt.«
    »Oh Prabu«, sagte Rukhmabai, »gib Onkel Shantaram einen Kuss.«
    Der Junge küsste mich rasch auf die Wange. Dann schlang er mit erstaunlicher Kraft seine kleinen Arme um meinen Hals und drückte mich. Ich umarmte ihn auch und hielt ihn nahe meinem Herzen.
    »Weißt du, Shantu«, bemerkte Kishan, klopfte sich auf den runden Bauch und lächelte so breit, als wolle er mit seinem Strahlen die ganze Welt erfüllen, »dein Haus ist leer. Wir sind alle hier. Du könntest über Nacht hierbleiben. Du könntest hier schlafen.«
    »Das würde ich mir gut überlegen, Lin«, sagte Johnny Cigar grinsend. Seine starken weißen Zähne glitzerten im Licht des Vollmonds. »Wenn du hierbleibst, wird sich das schnell herumsprechen. Erst wird es ein Fest geben und dann, wenn du aufwachst, wird eine verdammt lange Patientenschlange auf dich warten.«
    Ich gab den Jungen in die Arme seiner Mutter zurück und strich mir übers Gesicht und durchs Haar. Als ich die Menschen ansah, als ich der atmenden, wimmelnden, lachenden, beherzten Musik des Slums lauschte, erinnerte ich mich an einen von Khaderbhais Lieblingssätzen. Jeder menschliche Herzschlag, hatte er oft gesagt, ist eine ganze Welt voller Möglichkeiten. Und es schien mir, als verstünde ich nun zu guter Letzt, was er damit gemeint hatte. Er hatte mir sagen wollen, dass jeder menschliche Wille die Kraft in sich trägt, sein Schicksal zu gestalten. Ich hatte das Schicksal immer für unabänderlich gehalten, hatte angenommen, dass es jedem von uns von Geburt an bestimmt und so fest stehend sei wie der Lauf der Sterne. Doch plötzlich wurde mir bewusst, dass unser Leben viel eigenartiger und viel schöner ist. In Wahrheit kann jeder von uns – in welchem Spiel er auch befangen ist, wie viel Glück oder wie viel Pech er auch hat – mit einem einzigen Gedanken oder einer einzigen Tat der Liebe sein Leben von Grund auf verändern.
    »Na ja, ich bin es nicht mehr gewohnt, auf dem Boden zu schlafen«, sagte ich und lächelte Rukhmabai an.
    »Du kannst mein Bett haben«, erbot sich Kishan sofort.
    »Kommt gar nicht in Frage!«, protestierte ich.
    »Aber natürlich!«, erwiderte er hartnäckig und begann seine Liege aus seiner Hütte in meine hinüberzuzerren, während Johnny, Jeetendra und die anderen sich johlend auf mich stürzten, um mich zu bändigen, und unsere Rufe und unser Gelächter hinüber wehten zur zeitlosen Unendlichkeit des Meeres.
    Denn genau das ist es, was wir tun. Einen Fuß vor den anderen setzen. Stets aufs Neue ins grimmige und lächelnde Angesicht der Welt blicken. Denken. Handeln. Fühlen. Unseren kleinen Anteil zu den Gezeiten von Gut und Böse geben, die der Welt Wasser bringen oder Trockenheit. Die Schatten unseres Kreuzes in die Hoffnung der kommenden Nacht schleppen. Unsere mutigen Herzen in die Verheißung eines neuen Tages stemmen. Mit Liebe: der leidenschaftlichen Suche nach einer anderen Wahrheit als unserer eigenen. Mit Sehnsucht: dem reinen unauslöschlichen Verlangen, erlöst zu werden. So lange das Schicksal wartet, leben wir weiter. Gott helfe uns. Gott vergebe uns. Wir leben weiter.
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