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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram
Autoren: Gregory David Roberts
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ihn zu mögen. Oder man verlässt Bombay.
    Und dann waren da die Menschen. Assamesen, Jats und Punjabis; Menschen aus Rajasthan, Bengal und Tamil Nadu; aus Pushkar, Cochin und Konarak; Angehörige der Kriegerkaste, Brahmanen und Unberührbare; Hindus, Muslime, Christen, Buddhisten, Parsen, Jainas, Animisten; helle und dunkle Haut, grüne und goldbraune und schwarze Augen; jegliche Gesichtsform dieser verschwenderischen Vielfalt, dieser unvergleichlichen Schönheit, Indien.
    All die Millionen Einwohner von Bombay, und noch ein weiterer. Die beiden besten Freunde des Schmugglers sind das Maultier und das Kamel. Maultiere transportieren heiße Ware durch die Grenzkontrolle. Kamele sind ahnungslose Touristen, die dem Schmuggler behilflich sind, über die Grenze zu kommen. Wenn sie mit falschen Papieren reisen, heften sich Schmuggler zur Tarnung an andere Reisende – die Kamele –, die sie dann durch Flughafen- oder Grenzkontrollen schleusen, ohne es zu ahnen.
    Von alldem wusste ich damals nichts. Die Schmugglerkunst erlernte ich erst viele Jahre später. Bei dieser ersten Reise nach Indien folgte ich nur meinem Instinkt und schmuggelte nur eine einzige Ware: mein Selbst , meine zerbrechliche und gehetzte Freiheit. Ich hatte einen gefälschten neuseeländischen Pass bei mir, mit meinem Foto anstelle des Originals. Das Passbild hatte ich selbst ausgetauscht, und die Fälschung war alles andere als makellos. Bei einer Routinekontrolle kam ich wohl damit durch, aber wenn jemand Verdacht schöpfte und bei der neuseeländischen Hochkommission nachfragte, würde die Fä lschung sofort auffliegen. Auf dem Flug von Auckland nach Indien streifte ich durch die Reihen und hielt Ausschau nach geeigneten Neuseeländern. Ich stieß auf eine kleine Gruppe Studenten, die bereits zum zweiten Mal auf den Subkontinent reisten. Ich drängte sie, mir von ihren Erfahrungen zu berichten und mir Reisetipps zu geben, und schloss mich ihnen an, als wir von Bord gingen. So kam ich unbehindert durch die Flughafenkontrolle. Die Angestellten nahmen an, dass ich zu dieser fröhlichen, harmlosen Reisegruppe gehörte, und blickten nur flüchtig auf meinen Pass.
    Allein drängte ich mich durch das Getümmel im Flughafen nach draußen und trat in die stechende Sonne, berauscht und beflügelt: wieder eine Wand bezwungen, eine Grenze passiert, einen Tag und eine Nacht gewonnen, um zu flüchten, um mich zu verstecken. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit ich aus dem Gefängnis geflohen war, aber wer einmal auf der Flucht ist, der flüchtet weiter, Tag und Nacht. Ich war nicht wirklich frei, niemals wirklich frei, doch alles Neue bedeutete mir Hoffnung und angstvolle Aufregung: ein neuer Pass, ein neues Land, neue Linien der Furcht in meinem jungen Gesicht, unter den grauen Augen. Nun stand ich da, unter der blauen Himmelsschale über Bombay, und mein Herz war so rein und hungrig nach Verheißungen wie ein Monsunmorgen in den Gärten von Malabar.
    »Sir, Sir!«, rief eine Stimme hinter mir.
    Eine Hand packte meinen Arm. Ich erstarrte. Spannte jeden Muskel an und verbiss mir die Angst. Nicht rennen. Keine Panik. Ich wandte mich um.
    Vor mir stand ein kleiner Mann in einer schmuddeligen braunen Uniform, meine Gitarre im Arm. Er war nicht nur klein, sondern geradezu winzig, ein Zwerg mit großem Kopf und der erstaunten Unschuld des Down-Syndroms in den Gesichtszügen. Er streckte mir die Gitarre hin.
    »Ihre Musik, Sir. Sie verlieren Ihre Musik, oder?«
    Es war tatsächlich meine Gitarre. Ich hatte sie offenbar an der Gepäckausgabe stehen lassen. Woher der kleine Mann wusste, dass sie mir gehörte, war mir ein Rätsel. Ich lächelte, verblüfft und erleichtert, und der Mann grinste mich mit dieser absoluten Arglosigkeit an, die wir fürchten und als beschränkt bezeichnen. Als er mir die Gitarre reichte, fiel mir auf, dass er Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte, wie ein Stelzvogel an den Füßen. Ich zog ein paar Geldscheine aus der Tasche und hielt sie ihm hin, doch er stolperte auf seinen dicken Beinen ungelenk rückwärts.
    »Nicht Geld!«, sagte er. »Wir sind hier, zu helfen, Sir. Willkommen in Indien.« Dann trottete er davon und verschwand in dem Menschendickicht auf der unbefestigten Straße.
    Ich kaufte mir ein Ticket, um mit dem Veterans’ Bus Service, der von Exsoldaten der indischen Armee betrieben wurde, in die Stadt zu fahren. Nachdem ich gesehen hatte, wie mein Rucksack und meine Reisetasche mit unbekümmerter Achtlosigkeit zielsicher auf
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