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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram
Autoren: Gregory David Roberts
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war Ausländer, so bleich wie alle Fremden im Bus, und hatte nur ein Tuch mit Hibiskusblütenmuster um die Hüfte geschlungen. Er reckte sich, gähnte und kratzte sich gedankenverloren am Bauch. Auf eine einfältige Art wirkte er froh und zufrieden, und ich beneidete ihn um seine Gelassenheit und das Lächeln, mit dem ihn die Vorübergehenden begrüßten.
    Als der Bus sich ruckartig wieder in Bewegung setzte, verlor ich den Mann aus den Augen. Doch sein Anblick hatte meine Einstellung zu den Slums von Grund auf verändert. Er gehörte dieser Welt ebenso wenig an wie ich, und unwillkürlich sah ich mich nun an seiner Stelle. Was unfassbar fremd für mich gewesen war, erschien mir plötzlich möglich, vorstellbar und zuletzt faszinierend.
    Nun achtete ich noch mehr auf die einzelnen Menschen, und ich sah, wie geschäftig sie waren – wie sehr ihr Fleiß und ihre Energie ihr Leben bestimmten. Hie und da konnte ich in eine der Hütten blicken und sah dort die erstaunliche Sauberkeit der Armut: frisch gekehrte Böden, ordentlich gestapelte, schimmernde Kochtöpfe. Und dann, ganz zuletzt, fiel mir auf, was ich gleich zu Anfang hätte bemerken müssen: die Schönheit dieser Menschen. In Purpur, Blau und Gold gehüllte Frauen; Frauen, die mit ruhiger, erhabener Anmut durch diese ärmliche Umgebung schritten; die Würde der Männer mit ihren blendend weißen Zähnen und mandelförmigen Augen; die herzliche Ausgelassenheit und die liebevolle Kameradschaft der feingliedrigen Kinder: Ältere spielten mit jüngeren, und viele trugen ein Geschwisterkind auf der Hüfte umher. Nach einer halben Stunde Busfahrt lächelte ich zum ersten Mal.
    »Ist echt nicht schön«, sagte der junge Mann neben mir, als er durchs Fenster schaute. Das aufgestickte Ahornblatt an seiner Jacke wies ihn als Kanadier aus: groß und breitschultrig, helle Augen, schulterlange braune Haare. Sein Begleiter wirkte wie eine kleinere kompaktere Ausgabe seines Freundes – die beiden trugen sogar dieselben künstlich verwaschenen Jeans, dieselben Sandalen und weichen Baumwolljacken.
    »Wie war das?«
    »Zum ersten Mal hier?«, fragte er. Ich nickte. »Dachte ich mir. Keine Sorge, ab jetzt wird’s etwas besser. Nicht ganz so viele Slums und so. Aber toll ist es nirgendwo in Bombay. Die fertigste Stadt der Welt, sag ich dir.«
    »Stimmt«, pflichtete ihm der andere bei.
    »Wo wir gleich hinkommen, gibt’s ein paar hübsche Tempel und ein paar große britische Gebäude, die okay sind – mit Steinlöwen und Messinglaternen und so. Aber das ist nicht Indien. Das richtige Indien ist am Himalaya, in Manali oder in der heiligen Stadt Varanasi oder an der Küste, in Kerala. Du musst raus aus der Stadt, wenn du das echte Indien erleben willst.«
    »Und wohin seid ihr unterwegs?«
    »Wir wollen zu einem Ashram«, erklärte der Kleinere. »Der von den Rajneesh-Leuten, in Poona. Das ist der beste Ashram im ganzen Land.«
    Zwei Paar blassblauer Augen starrten mich mit dem anklagenden Zweifel all jener an, die überzeugt davon sind, den einzigen Weg zur Wahrheit gefunden zu haben.
    »Checkst du ein?«
    »Wie?«
    »Checkst du in Bombay in ein Hotel ein, oder bist du nur auf der Durchreise?«
    »Ich weiß noch nicht«, antwortete ich und sah wieder zum Fenster hinaus. Das stimmte; ich wusste nicht, ob ich eine Weile in Bombay bleiben oder weiterfahren wollte … irgendwohin. Ich wusste es nicht, und es war mir nicht wichtig. In diesem Augenblick war ich, was Karla einmal das gefährlichste und faszinierendste Tier der Welt nannte: ein mutiger harter Mann ohne Ziel. »Ich hab noch keine Pläne. Aber ich werd vielleicht eine Weile bleiben.«
    »Also, wir übernachten und fahren morgen mit dem Zug weiter. Wenn du willst, können wir uns zusammen ein Zimmer nehmen. Für drei ist es billiger.«
    Ich blickte in diese arglosen blauen Augen. Wäre vielleicht nicht dumm, mit denen ein Zimmer zu teilen, dachte ich. Ihre legalen Papiere und ihr freundliches Lächeln würden von meinem gefälschten Pass ablenken. Vielleicht war das sicherer.
    »Und es ist auch sicherer«, fügte er hinzu.
    »Stimmt«, pflichtete sein Freund ihm bei.
    »Sicherer?«, fragte ich mit einer Lässigkeit, die ich nicht empfand.
    Der Bus fuhr jetzt langsam zwischen drei- und vierstöckigen Häusern hindurch. Auf wundersame Art wälzte sich der Verkehr reibungslos durch die Straßen – ein wilder Tanz von Bussen, Lastwagen, Fahrrädern, Autos, Ochsenkarren, Motorrollern und Fußgängern. Durch die offenen Fenster
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