Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
den Gepäckberg auf dem Dach des Busses geschleudert wurden, beschloss ich, meine Gitarre bei mir zu behalten. Ich ließ mich auf der Rückbank im hinteren Teil des Busses nieder, und zwei langhaarige Reisende setzten sich zu mir. Der Bus füllte sich rasch mit Indern und jungen Ausländern, die billig reisen wollten.
    Als er fast voll war, wandte sich der Fahrer um, blickte drohend in die Runde, spuckte einen Strahl leuchtend roten Betelsafts durch die offene Tür und tat die bevorstehende Abfahrt kund.
    »Thik hain, challo!«
    Der Motor erwachte grollend zum Leben, das Getriebe knirschte und krachte, und schon rasten wir mit beängstigendem Tempo durch Menschenmengen aus Gepäckträgern und Fußgängern, die gerade noch beiseitespringen, -hüpfen oder -humpeln konnten und dabei vom Schaffner, der auf der untersten Trittstufe des Busses hockte, mit einer Tirade erlesener Schmähungen bedacht wurden.
    Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt begann auf einer modernen, von Sträuchern und Bäumen gesäumten Autobahn, die mich an die akkurate und funktionale Gegend am Flughafen meiner Heimatstadt Melbourne erinnerte. Als sich die Straße dann aber unversehens verengte, wurde dieser vertraute Effekt so plötzlich und so nachhaltig zerstört, als geschähe das mit Kalkül. Denn als aus den vielen Spuren der Autobahn eine einzige wurde, als die Bäume verschwanden und die Slums in Sicht kamen, packten die Klauen der Scham mein Herz.
    Wie schwarzbraune Dünen unter flirrenden staubigen Luftschwaden erstreckten sich die Slums meilenweit. Die elenden Hütten waren dicht nebeneinander aus Lumpen, Plastikstücken und Pappfetzen, aus Schilfmatten und Bambusstäben errichtet worden und durch schmale Wege verbunden. Bis zum Horizont war nichts zu sehen, das höher gewesen wäre als ein Mensch.
    Es schien mir unfassbar, dass ein moderner Flughafen voller wohlhabender zielstrebiger Menschen nur wenige Kilometer von diesen zu Schutt und Asche zerfallenen Träumen entfernt sein konnte. Mein erster Gedanke war, dass es hier eine Katastrophe gegeben haben musste und die Slums Flüchtlingslager für die Überlebenden waren. Monate später sollte ich erfahren, dass die Menschen in den Slums in der Tat Überlebende waren; die Katastrophen, die sie aus ihren Dörfern hierher getrieben hatten, hießen Armut, Hungersnot und Blutvergießen. Und jede Woche trafen fünftausend weitere Menschen ein, Woche für Woche, Jahr um Jahr.
    Als draußen kilometerlang nur Slums zu sehen waren, als aus Hunderten von Menschen Tausende und Abertausende wurden, wand sich mein Gewissen in Qualen. Ich fühlte mich von meiner eigenen Gesundheit und dem Geld in meinen Taschen geschändet. Wenn man sie überhaupt spürt, diese erste Begegnung mit dem Elend dieser Welt, empfindet man eine peinigende Schuld. Ich hatte Banken überfallen und Drogen verkauft, und ich war von Gefängniswärtern geschlagen worden, bis mir die Knochen brachen. Ich war niedergestochen worden und hatte andere niedergestochen. Ich war aus einem brutalen Gefängnis voller brutaler Männer geflüchtet, auf die harte Tour – über die Frontmauer. Und dennoch war diese erste Begegnung mit dem grenzenlosen Elend der Slums, mit diesem erbarmungslosen Kummer bis zum Horizont, wie ein Schnitt ins Herz und in die Augen. Eine Weile lief ich in Messerklingen.
    Dann flammte die Glut aus Scham und Schuldgefühlen auf, wurde zu Zorn, zu rasender Wut über diese Ungerechtigkeit: Was für eine Regierung, was für ein System, dachte ich, duldet solches Leid?
    Doch dort draußen nahmen die Slums kein Ende, wurden nur hie und da verhöhnt durch kleine florierende Geschäfte und heruntergekommene, halb überwucherte Wohnhäuser der vergleichsweise Wohlhabenden. Die Slums waren endlos, und so erlahmte mein innerer Widerstand, und ich begann mit anderen Augen zu sehen. Ich nahm nicht mehr nur die Endlosigkeit der Slums wahr, sondern die Menschen, die dort lebten. Eine Frau beugte sich vornüber, um ihre seidigen schwarzen Haare zu bürsten. Eine andere Frau wusch ihre Kinder mit Wasser aus einer Kupferschale. Ein Mann trieb drei Ziegen voran, an deren Halsbändern rote Schleifen befestigt waren. Ein anderer Mann rasierte sich vor einer Spiegelscherbe. Überall spielten Kinder. Männer schleppten Wassereimer. Männer besserten eine Hütte aus. Und wo mein Blick auch hinfiel, sah ich Menschen lächeln und lachen.
    Der Bus musste in einem Stau anhalten, und vor meinem Fenster trat ein Mann aus einer der Hütten. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher