Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
Vom Netzwerk:
Dienstag
    Ein Tag ohne Sprechen gilt nicht. Heute Morgen warst du
wie zugenäht, nichts gesagt, aber auch gar nichts , so
etwas von nichts. Ich wollte deine Lippen auseinanderzerren und die Augenlider
hochstemmen, einfach nichts zu sagen, das geht in unserer Familie nicht, vieles
geht, aber nicht sprechen: nicht . Großmutter Mutter
Kind: wortgewaltig, Lästermäuler, nicht auf den Mund gefallen, Quasselstrippen,
Plaudertaschen, Zwitschermaschinen, redselig. Plötzlich schweigen gilt nicht.
Wenn du nichts sagst, mache ich es für dich.
    Mutter bedroht Annie mit dem Tod, das kann sie gut.
    Ich sterbe, sagt sie zunächst leise, aber es genügt, um den
Herzschlag des Kindes zu beschleunigen, um Annie an Mutters Seite zu holen, sie
nimmt Mutters Hand und presst sich an ihre Schulter.
    Â»Ich sterbe, das fühle ich, diesmal sicherlich, es ist so weit.«
    Annie wird totenblass und hängt an Mutters Lippen. Mutter
sieht rosig aus, aber ihre Lippen sind trocken, weil sie stoßweise ein- und
ausatmet, sie atmet so rasch, dass sie irgendwann keine Luft mehr bekommt und
anfängt zu zittern. Da weiß Annie, dass Mutter diesmal wirklich recht hat,
jemand, der stöhnt beim Einatmen und stöhnt beim Ausatmen, der macht es nicht
mehr lange, Mutter macht es nicht mehr lange.
    Â»Mutter«, sagt Annie angstvoll. Mutter sinkt in einen Sessel und
packt Annie am Arm, sie hält sie sehr fest, damit sie sich nicht aus dem Staub
macht, aber das würde sie nie tun, sie wird die sterbende Mutter nicht allein
lassen, sie wird alles für Mutter tun und sie vielleicht retten, wenn sie es
erlaubt.
    Â»Ganz allein bin ich«, stöhnt Mutter, und nun weiß Annie endlich
wieder, was sie zu tun hat. Sie hatte es nur vergessen, das letzte Mal ist eine
Weile her, damals hat es geholfen, und es wird wieder helfen, und schon ist
Annie nicht mehr so angst und bange, denn sie wird sich anstrengen und wird
Mutter wieder retten, wie beim letzten Mal. Auf einmal spürt sie eine Freude,
dass sie so viel tun kann für ihre sterbende Mutter.
    Â»Mutter«, ruft sie und drängt sich an die Mutter, die sie gleich
noch fester umfasst, als wollte der Tod sie von ihrem Kind wegreißen, »ich habe
dich doch so lieb, du darfst nicht sterben.«
    Â»Nein«, murmelt die Mutter, »das glaube ich nicht, keiner ist für
mich da, am Ende ist man allein.«
    Â»Doch«, ruft Annie triumphierend, sie erinnert sich nun sehr gut an
die Worte, die sie zu sprechen hat und immer wieder sprechen wird, »doch, ich
bin bei dir, Mutter, ich liebe dich.« Mutter macht abwehrende
Bewegungen mit der Hand und dreht kraftlos den Kopf zur Seite, vom Kind weg.
Annie tänzelt auf die andere Seite, hinüber in Mutters Blick, und fasst die
abwehrende Hand, hält sie fest und fängt an, Mutter zu streicheln. Mutter atmet
laut und schnell, ihre trockenen Lippen stehen halb offen, sie gurgelt aus der
Kehle, das gehört alles dazu, wie konnte Annie es vergessen. Sie lässt schnell
die Hand los, rennt in die Küche, befeuchtet ein Geschirrhandtuch mit Wasser
und ist schon wieder an Mutters Seite, tupft ihre Lippen ab mit dem feuchten
Tuch, fasst die Hand, die nun endlich zugreift und das Kind festhält. Mutters
Stöhnen wird leiser, sie öffnet die Augen und schaut Annie an, die dem Blick
nicht ausweicht.
    Â»Du bist meine Tochter«, murmelt Mutter, »du lässt mich nicht allein.« Annie nickt, drückt die Hand und sinkt an Mutters
Schulter. Nun, da sie weiß, dass Mutter diesmal wieder nicht sterben wird, ist
sie auf einmal sehr müde.
    Und jetzt bedrohst du mich mit dem Tod.
    Weil ich gelernt habe, dass wir über alles reden außer über die
schlechten Dinge, konnte ich heute Morgen in der Klinik nicht mit dir sprechen.
Du hast die Augen gar nicht erst geöffnet. Deine Hände: dicker als früher und
fest, die Haut wie eine Folie über die prallen Handrücken gespannt, sie liegen
ruhig auf der Decke. Fast hätte ich danach gegriffen, aber solche Liebkosungen
sind zwischen uns nicht üblich. Haben sie dich hier gemästet, sagte ich zaghaft
und lächelte in dein geschlossenes Gesicht, jemand musste ja etwas sagen in
diesem stillen Zimmer, die Schwester sorgt dafür, dass die Tür immer offen
bleibt. Ich wollte mit meinem Blick deine Augenlider hochziehen, die auch dick
waren, kleine, blickdichte Wülste. Sprechen Sie ruhig mit Ihrer Mutter, meinte
die Schwester,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher