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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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wenn es nur nicht so ängstlich wäre.
    â€“ Ihr geht doch nicht weg.
    â€“ Wir gehen nicht weg. Wir trennen uns nicht.
    Und wirklich habt ihr euch nicht getrennt. Viele andere um uns herum
gingen auseinander, mal der Mann zuerst, mal die Frau.
    â€“ Weg, die ist einfach abgehauen, der hat eine Jüngere, die armen
Kinder. Mit wem fahren die jetzt in Ferien, wer schmiert denen jetzt ein
Butterbrot.
    Und wirklich, die armen Kinder, dachte ich, untergründig glühte die
Angst: Was machen denn die Kinder, wenn sie Angst haben, wer passt auf sie auf
und auf mich.
    â€“ Meine Mutter war auch weg, sagtest du, und fast klang es wie eine
Errungenschaft, auf die du stolz warst: Sie war weg, und du warst da und nicht
vor Angst vergangen.
    Warum bin ich dann so ängstlich, wo es doch nichts gab, keinen
Krieg, kein Weggehen, kein Feuer, einfach gar nichts in meinem glatten,
stillen, beschützten Leben.
    â€“ Wovor musst du denn Angst haben, sagtest du verächtlich, du
wolltest mich nicht verachten, aber meine Angst war doch zu erbärmlich: Was
hatte ich denn erlebt?
    Die Angst, dir könnte etwas abbrechen. Wir saßen auf dem Sofa, ein
Bilderbuch auf deinem Schoß, beide Hände umfassten das Buch. Ich lehnte mich
gegen dich, drückte die Nase in deinen Pulli, leichter Rauchgeruch, schob mein
Kinn auf deine Schulter, hörte kaum noch der Geschichte zu, die ich auswendig
kannte, bis du endlich den Arm leicht um mich legtest. Jetzt lag er da, wo ich
ihn wollte, umarmt wollte ich sein. Aber es konnte doch sein, dass er abbrach,
einfach abfiel. Vorsichtig drehte ich den Kopf, um zu sehen, ob er immer noch
fest in deiner Schulter saß. Es sah gut aus, aber so ein Arm konnte schnell
abgehen, wie ein fauler Ast konnte er sich lösen und aus dem Gelenk bröckeln,
und dann hättest du nur noch einen Arm, um zu kochen und zu saugen und mich zu
umarmen.
    â€“ Mama, können Arme einfach abfallen.
    Du schautest mich spöttisch an, du konntest ja versuchen, mit Spott
mir etwas auszutreiben, aber dass es nicht half, wussten wir beide.
    â€“ Was meinst denn du, sagtest du schön spöttisch, um mich die
Dummheit meiner Frage spüren zu lassen, nicht um mich wirklich zu verhöhnen,
sondern gegen meine Angst. Was meinst du, kann so ein Arm abgehen, und du
schwenktest deinen Arm vor meinem Gesicht hin und her.
    â€“ Nein, sagte ich beschämt, aber im Einkaufszentrum ist einer ohne
Bein, der stützt sich auf Krücken und hat lila Hände.
    â€“ Dem ist es ja nicht einfach abgefallen, sagtest du, der hat es im
Krieg gelassen.
    Im Krieg ließ man also Beine liegen, so wie
ich den Turnbeutel nach dem Kindersport. Dort lagen sie herum und wurden lila,
bis jemand sie aufsammelte und wegschmiss.
    â€“ Oder, sagte ich zu meiner Freundin Karin, mit der ich gern über
eklige Sachen redete, es gibt ein Heim für verlassene Beine. Einbeinige Leute
können hinkommen und schauen, ob sie eins finden, das ihnen passt. Karin
kicherte und nahm mich mit ins Einkaufszentrum, wo wir den Mann mit den Krücken
suchten. Diesmal lehnte er neben der Apotheke an einem Blumenkübel, die lila
Hände um die Handgriffe geklammert. Nie saß er, obwohl die Bank neben ihm auch
diesmal wieder frei war. Er könnte sich einfach in dem Heim ein neues Bein
holen, kicherten wir. Vielleicht ein Frauenbein, so ein langes dünnes mit einem
Stöckelschuh. Wir trieben uns bei der Apothekerin herum, sie steckte uns
Traubenzucker zu und beobachtete uns, ob wir etwas klauen wollten, aber dafür
waren wir zu klein, wir wollten nur den einbeinigen Mann aus der Nähe
studieren, den Schauder des mit einer Sicherheitsnadel hochgesteckten
Hosenbeins und eines Krieges, in dem Körperteile herumlagen. Der Mann schob
sich eine Zigarette in den Mund und schaute verdrossen zu uns herüber, er
merkte, dass wir ihn anstarrten, und nun spielten wir mit ihm, drehten uns weg,
schlenderten davon, nur um uns wieder anzupirschen, halb versteckt hinter den
Drehständern mit den Hustenbonbons und den Heftpflastern, das Bein war uns
schon fast egal, er sollte uns mal kennenlernen, von dem ließen wir uns gar
nichts vormachen, wir waren schnell und klein, und hinter uns her käme er
sowieso nie.
    Das Einkaufszentrum, labyrinthisch und blendend neu, lockte dich
beinahe jeden Tag. Damals ganz neu: alles unter einem Dach. Mit deinem schicken
schwarzen Einkaufswagen zogst du los, mal mit mir, mal ohne mich, und
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