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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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das Annie, meine Mutter,
früher polieren durfte. Aber sie sprach einfach weiter, so laut, dass ich durch
den Hörer mithörte, weil ich daneben stand:
    â€“ Hörst du, Anne, also, Anne, wenn du mir überhaupt nicht
antwortest, du schuldest mir eine Entschuldigung, Anne.
    Aber du standest oder saßest, wo du gerade warst, einen langen
Moment eingefroren, bis ich rief und an dir zupfte und schon Angst hatte, du
könntest in Tränen ausbrechen: weil das das Allerschlimmste war, um jeden Preis
zu verhindern.
    Oft sind deine Augen etwas hervorgetreten, als drückten von hinten,
von innen die Tränen und fänden keinen Durchlass. Aber du durftest nicht weinen
und eigentlich auch nicht stillsitzen, du musstest ja mich halten, denn ich
hatte solche Angst vor Alarm, nicht du.
    â€“ Es könnte Krieg kommen, das Haus, es könnte doch brennen, Mama,
hörst du den Alarm, warum guckst du so komisch.
    Du standest noch einen Augenblick verloren, dann legtest du den Arm
um mich: Schon war der Alarm fast verklungen.
    Einmal Alarm in der Grundschule, die Lehrerin schob uns nach
draußen, geprobt hatten wir es, wussten, dass wir uns an den Händen nehmen
sollten, dass wir durchzählen mussten, an welchem Strauch im Pausenhof wir uns
versammeln sollten, die Lehrerin drehte sich an der Tür des Klassenzimmers noch
einmal um, bückte sich und schaute prüfend unter die Tische, so genau wusste
sie, was zu tun war, sah auch die Tränen in meinen Augen, nahm mich an der
Hand, wir bildeten das Schlusslicht unserer kleinen Prozession. Aus jeder
Klasse kam ein Zug von Mädchen und Jungen in schönster Ordnung, sanft
vorangetrieben von einer ruhig lächelnden Lehrerin, während die Sirene mich an
der Gurgel hatte, bis ich würgte und weinte, na na, sagte die Lehrerin, das ist
doch nur eine Probe, gleich hört es doch auf, weißt du, jetzt beruhige dich
doch.
    Ein Elterngespräch: über meine Angst. Das Kind, wusste die Lehrerin,
braucht Hilfe. Allein kann es das nicht überwinden. Ihren Familienhintergrund
kenne ich ja, sagte die Lehrerin freundlich, wie kommt das Kind nur auf diese
Ängste. Mit therapeutischen Maßnahmen muss man da vorgehen.
    Was? Das musstest du erst mal verdauen, hast du mir erzählt, das war
ja allerhand, so ein kleines Kind und schon zum Therapeuten, zu dem dich ja
keine zehn Pferde jemals hin bekämen, nicht gegen Geld, aber ganz ehrlich,
schon als Baby hatte ich ja nur geschrien, nicht normal war das, und dazu passt
doch die Angst wie die Faust aufs Auge. Nicht dass ich krank war, aber doch
über die Maßen ängstlich und verängstigt, eine Störung lag da schon vor, und
die konnte man behandeln, das war keine Schande und sowieso ja auch nur ein
Vorschlag, den du annahmst für mich.
    Also ging ich zum Therapeuten und redete von der Angst, und weil ich
gern redete, erzählte ich ihm lange Geschichten in seine sanften braunen Augen
hinein, die mich nie aus dem Blick ließen, Geschichten von Alarm und dem Mann,
der sein Bein im Krieg gelassen hatte, von Feuer und den Eltern, die vielleicht
weggingen, obwohl sie das nie tun würden, und dass man ja nie wusste, was
passieren könnte.
    Ich hatte kein Recht, so viel Angst zu haben, ich ging allen auf die
Nerven damit. Der Psychologe war noch besser als du, weil eine Stunde nur für
meine Ängste zuständig. Er hatte so wie du immer warme Hände. Er schaute mich
an, wenn ich sprach, ein fester warmer Blick, gut gegen Angst und überhaupt so
warm, dass ich mich tagelang darauf freute, in diesen Blick wieder
einzutauchen, und nicht gehen wollte, wenn die Stunde vorbei war. Ich sollte
nicht gleich von der Angst sprechen, weil sie zu groß war. Wir fingen anders
an, mit einer Wiese, auf der ich in Gedanken spazieren ging, und ich
schlenderte herum, die Gedanken waren meine Hunde, die um mich herumsprangen,
es gab Quellen, Moos, viele kleinere Nagetiere und Vögel, Felsen, an die ich
mich lehnen konnte und die Füße in den Bach strecken, die Tiere um mich herum,
ich brauchte nur eine Hand auszustrecken, schon spürte ich Fell und Federn.
Keine Wolke am Himmel, keine Angst in Sicht. Die Angst wegreden und
wegspazieren, er ließ mich weiterspazieren, ich genoss die Wortspaziergänge und
den Zuhörer, der mich anschaute, immerzu anschaute, es gab mich also, und es
ging mir gut, er fragte auch immer, ob es gut gehe, das fragte sonst niemand.
Dann lenkte er meine
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