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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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war schon erloschen, und du nahmst ein zweites heraus, so,
jetzt aber. Nein nein, schrie ich und fiel dir in den Arm, aber du warst nicht
zu bremsen, du hieltest die kleine zittrige Flamme an die Betonmauer, und sie
verlosch im Handumdrehen. Der aschige Streichholzkopf hinterließ einen
winzigen, schwarzen Punkt an der weißen Wand. Du blicktest mich an, ohne
Triumph, wie eine Lehrerin, die eine schwere Mathematikaufgabe zu guter Letzt
so perfekt erklärt hat, dass auch das dümmste Kind sie begreifen kann. Ich
heulte und lief weg, meine Angst für dumm verkauft: Auf diesen kleinen Trick
würde sie nicht hereinfallen und ich auch nicht.
    Mein Zuhörer ermutigte mich zur ernsthaften Bekämpfung. Als wir
schon viele Wiesen durchwandert und zahllose Feuer gelöscht hatten, schenkte
ich ihm eine lange Geschichte ganz ohne Angst. Diese Geschichte erzählte ich
mit offenen Augen. Ich erzählte von einem Schiff auf dem Fluss, ein Fest wurde
gefeiert, viele Menschen tanzten zu einer zauberhaften Musik, und als der Tanz
sich am schönsten drehte, legte das Schiff ab und trieb über das Wasser in den
Abend, von Lampions erleuchtet. Ich schaute meinen Zuhörer an, und er nickte
mir zu. Als meine Stunden zu Ende waren, hatte ich viele Geschichten gegen die
Angst und verlor meinen Zuhörer, aber du warst ja noch da. Trotzdem bleibt es
dabei, auch heute noch: Nicht weggehen. Sich nicht trennen. Abends die Schuhe
ins Regal.
    Mutter war oft unterwegs, Annie wusste nicht, wo. Sie ging
organisieren, man musste sich etwas einfallen lassen, um zu überleben, um Essen
zu bekommen, um Butter zu bekommen, mit der man backen konnte, und wer sonst
sollte sich darum kümmern, Vater stand in den Feldern und malte Mohn. Also ging
sie auf und davon, und Annie wartete im Obstgarten. Sie hätte auch im Haus
warten können, aber das Haus war zu leer, nur das Kindermädchen schrubbte in
der Küche die Töpfe, in denen niemand etwas kochen konnte, bis Mutter wieder
zurück war. Im Obstgarten konnte Annie besser warten, sie stieg auf einen
Pflaumenbaum und lehnte sich an einen Ast, oder sie schaute den Ameisen zu, die
um den Kompost herum auf ihren Straßen dahinzogen, oder sie übte mit einem
Grashalm Vogelschreie: Man musste den Grashalm zwischen die Daumen pressen,
aber es ging nur, wenn der Grashalm straff war und keinen Riss hatte. Sie hätte
zu den Kindern in der nächsten Straße laufen können, aber sie wartete, bis es
dunkel wurde und Feuchtigkeit an ihr hochkroch, dann aß sie den Grashalm und
noch einen. Im Dunkeln klangen die Vogelschreie zittrig. Das Kindermädchen rief
nach ihr, und noch eine kleine Weile länger verbarg sie sich zwischen den Pflaumenbäumen
und hörte den Rufen zu, die immer dringlicher wurden und ihr gefielen und noch
besser gefallen hätten, wenn Mutter gerufen hätte.
    Mutter kam zurück, manchmal erst mitten in der Nacht, der Vater
schlief schon längst, aber Annie war immer wach. Egal, wie spät, sie stand in
der Tür und strahlte, weil Mutter wieder da war, und wartete, dass sie begrüßt
wurde, aber Mutter dachte nicht ans Begrüßen, sie war erhitzt und hatte wilde
Haare, sie hatte etwas erlebt, von dem sie nicht erzählte. Stattdessen sprach
sie von den sturen Bauern, die auf Tafelsilber aus waren, auf nichts als Tafelsilber,
und dass sie beinahe mit leeren Händen hätte zurückkommen müssen, weil sie kein
Tafelsilber zu bieten hatte. Sie wartete, bis sich eine gespannte Stille
ausbreitete, und noch etwas länger. Dann holte sie langsam und feierlich ein in
Zeitung eingeschlagenes Stück Butter aus der Manteltasche, ihre Beute für
Annie: der Preis für die Stunden allein im Obstgarten, und Annie hatte sich zu
freuen über die Butter und Mutters Mut.
    Â»Wie hast du die Butter bekommen ohne Tafelsilber.«
    Â»Tja«, sagte Mutter und spitzte kokett die Lippen, »da fällt mir
immer was ein.«
    Am nächsten Morgen backte das Kindermädchen Rosinenstuten und briet
Kartoffeln in der eisernen Pfanne, das alles wäre ohne die Butter nicht möglich
gewesen, und Annie schlug sich den Magen voll, bis sie kotzte.

Mittwoch
    Wir wollten doch mal, oder ich wollte doch mal, ich will
doch mit dir reisen, nach Stuttgart oder München, eine der Städte, in denen du jung
warst, so schöne Fotos von dir, als du jung warst, deine weichen welligen
Haare. Überraschung: einfach mal Zugtickets,
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