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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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gefunden, du sagst es mir am Telefon, wieder
unbewaffnet, ohne Triumph.
    â€“ Deswegen konnte ich nicht aufstehen.
    â€“ Ich denke, du konntest schon, aber wolltest nicht.
    â€“ Wollte nicht und konnte nicht.
    â€“ Warum hast du das nicht gesagt, Mama.
    â€“ Ich dachte, du merkst es.
    â€“ Was ich alles merken soll.
    â€“ Na, jetzt weißt du es.
    â€“ Aber auf Rügen warst du doch fit, das kann doch nicht sein, soll
ich kommen, ich kann die Kinder zu den Nachbarn oder den Freunden oder meiner
Freundin, oder er nimmt sich Urlaub, das lässt sich schon organisieren.
    â€“ Nein, lass mal, das ist zu viel Aufwand, ich bin doch bald wieder
zu Hause.
    â€“ Und dann, Mama, dann kommst du uns besuchen.
    â€“ Ja, dann komme ich sicher, wenn ihr mich haben wollt.
    Aber du kommst nicht, weil du nicht nach Hause kannst. Sie
behalten dich da, es wird nicht besser, und als sie anrufen, ist es gar nicht
gut, sie sind so ruhig, dass ich gleich weiß, dass es nicht gut ist. Sie wollen
es gleich erklären: die Diagnose, die Therapie und warum es nicht anschlägt,
aber ich will nichts hören.
    â€“ Ich komme sofort, schreie ich, dann können Sie mir alles erklären,
nicht am Telefon.
    Ich fahre mit dem Zug zu dir und gleich in die Klinik, in die
Innere, aber da bist du gar nicht, nein, du bist verlegt auf die Intensiv, ob
ich das nicht wusste.
    â€“ Nein, keine Ahnung, warum wusste ich das nicht, das müssen Sie mir
doch sagen, Sie können doch nicht einfach meine Mutter auf die Intensiv, ich
meine, das sind doch Entscheidungen, die auch die Angehörigen, also die
Tochter, ich bin die Tochter .
    â€“ Wir mussten das entscheiden, sagt ein Arzt, der so lächerlich jung
ist, dass er kaum Abitur haben wird und höchstens entscheiden kann, wohin er in
Urlaub fährt, zu rasieren braucht er sich auch nicht, ein milchiges Gesicht
ohne Kinn, ein bisschen übernächtigt vielleicht: Ich sollte ihn ins Bett
schicken. Jedenfalls sollte er wohl nicht hier herumlaufen und Entscheidungen
über anderer Leute Mütter treffen.
    So kühl wie möglich frage ich, ob ich jetzt zu ihr kann, hinterher
darf er mir gern noch alles erklären, Mister Besserwisser.
    â€“ Jetzt dürfte ich vielleicht erst mal zu meiner Mutter, haben Sie
ihr Schläuche in den Arm gesteckt oder was.
    â€“ Hören Sie, Sie sollten sich beruhigen, sagt der Junge, ja, sie
bekommt Infusionen, falls Sie das meinen, sie ist sehr geschwächt, aber Sie
lassen mich ja nicht zu Wort kommen.
    Ich weiß, was Infusionen sind, fahre ich ihn an: Ich bin promoviert,
genauso ein Doktor wie dieser kleine Kerl, und lasse ihn nun einfach stehen,
gehe zu dir, aber so einfach ist es nicht, ich darf gar nicht rein.
    In einer Art Vorzimmer muss ich warten, muss mir einen weißen
Kittel überziehen, den man hinten zusammenbinden soll, aber da komme ich ja gar
nicht dran, oder wie lang sollen meine Arme sein, ich muss jemanden um Hilfe
bitten, die dicke schluchzende Frau mir gegenüber, die den Kittel schon
übergeworfen hat und gleich sieht, dass ich Hilfe brauche, weinend fummelt sie
mir am Hals herum, gibt mir weinend einen Klaps zwischen die Schultern, als sie
fertig ist, einfach weil sie das so gewohnt ist von ihren Kindern, ein Klaps:
Du kannst los, und dann sinkt sie wieder auf den Plastikstuhl und vergräbt das
Gesicht zwischen den Fingern.
    Ich schaue betreten woandershin, aber es gibt nicht viel anderes zu
sehen. Ab und zu fällt mein Blick, der lange genug über die eierschalenfarbene
Wand gewandert ist, doch auf sie.
    Inzwischen hat sie sich wieder aufgesetzt, sich die Nase geputzt,
etwas Rotz hängt noch daran, zupft an ihrem Kittel, dann nickt sie mir zu: Es
ist schwer.
    Ich nicke unbestimmt, ich weiß nicht recht, was sie meint, bisher
war es nicht schwer, die Intensivstation zu finden, sich den Kittel anzuziehen,
zu warten. Vielleicht ist es für sie schwerer. Aber dann werde ich geholt und
gehe über den Gang zu dir, und jetzt ist es schwer.
    Du liegst allein in einem Zimmer, in einem Nachthemd, das dir nicht
gehört, und schaust mich nicht an.
    Ich stehe einen Moment in der Tür, blicke auf die Geräte, die
Signale, das leere Bett neben dir, vielleicht, fällt mir ein, könnte ich hier
übernachten, nein, ich suche mir ein Zimmer, ich komme jeden Tag ab jetzt. Und
dann trete ich neben dich.
    â€“ Mama, was ist nur los, was machst du für Sachen.
    Du sagst gar nichts, das
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