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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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Stuhl nah an deinen heran und
lehne mich neben dir nach hinten. Du liest nicht, deine Augen sind offen, du
schaust an die Decke, als wolltest du dir die glitzernden Ornamente einprägen,
mit denen die Gäste in ihrer Prächtigkeit bestärkt werden sollen.
    â€“ Kitschig, oder, murmele ich und schaue zu dir herüber. Zuzudecken
brauche ich mich nicht, das Blut schießt mir durch den Körper, und meine Augen
sehen einen Stich klarer als sonst.
    Du antwortest nicht, du schaust einfach vor dich hin, unsere Arme
berühren sich. Da lege ich den Kopf zurück und schaue auch nach oben,
schweigend wir beide, und einen Moment lang fürchte ich, dass die Ornamente
über uns sich auflösen und auf uns herunterregnen könnten. Aber sie kleben da
oben, als seien sie für die Ewigkeit gemacht, ein Firmament aus Gips, das mir
gut gefällt.
    Mutter hat ihr Umstandskleider
genäht. Inzwischen wird sie beim Bäcker, im Kaufhaus und in der Reinigung
fürsorglich, beinahe zärtlich von anderen Frauen angesprochen: Ob sie vor
wolle, sie sei ja guter Hoffnung. In den Umstandskleidern der Mutter, dänisch
blau-weiß gemusterten Säcken aus Baumwolle, ist ihr Bauch gut versteckt, nur
der Kopf und die staksigen Beine schauen heraus. Sie lässt sich vom Richtigen Arbeit aus der Firma mitbringen und breitet
alles auf dem Sofa aus. Wenn das Kind kommt, wird es schlafen und nicht
schreien, so ist es ausgemacht, und dann kann sie auf dem Sofa die
Korrespondenz führen, nichts spricht dagegen, sie ist mit Sprachen besser als
mit Kindern, dafür hat sie ein Händchen.
    Â»Weißt du noch, wann ich dir zuletzt Kleider genäht habe«, sagt
Mutter verträumt und zieht Gummibündchen an den Ärmeln ein, damit nichts
verrutscht, »aus alten Vorhängen, das waren Zeiten.« Sie strickt auch Jäckchen
und Mützen für das Baby, in Weiß, »falls es doch ein Junge wird, auch wenn
alles dagegenspricht, alles«, sagt Mutter und klatscht mit der flachen Hand auf
Annies Bauch, »so sehen Töchter aus, das sag ich dir aus Erfahrung.« Aus
Erfahrung sagt sie auch, dass Annie ihr Geld nicht in der Reinigung
verschwenden, sondern sich lieber an die Hausarbeit gewöhnen soll, weil sie mit
Kindern sowieso ständig etwas zu waschen habe, und vielleicht gibt es ja mal
eine Waschmaschine, Platz wäre noch im Badezimmer, und dass sie sehr bald und
für immer aufhören solle zu arbeiten, weil eine Familie auch eine sehr wichtige
Arbeit sei.
    Â»Aber du hast doch auch gearbeitet«, wendet Annie ein. »Viel
später«, wehrt Mutter ab, »und nur weil ich musste.«
Sie ist noch nicht fertig: dass Stillen beschwerlich sei und einen Hängebusen
mache, dass Kinder sehr anhänglich täten und dass es gut sei, wenn sie so früh
wie möglich lernten, ihrer eigenen Wege zu gehen, so wie Annie es gemacht habe.
    Â»Papa war ja tot«, sagt Annie, »da war ja keiner.«
    Â»Kein Mann, meinst du«, triumphiert Mutter, »deswegen mussten wir
Frauen ja so zusammenhalten und waren immer, immer füreinander da. Aber du, du
hast ja einen Kavalier an deiner Seite, der wird dich schon durchs Leben tragen.«
    Er kann mich nicht mehr tragen, denkt Annie, ich bin zu schwer, ich
muss bald wieder leicht werden. Sonst verlernt er es noch. Mutter brüht
frischen Kaffee auf, den sie alleine trinkt, weil Schwangeren Kaffee nicht
guttut, dann häkelt sie noch eine Runde, bis der Richtige von der Arbeit kommt
und mit ihr scherzt. Er hat sich für eine jungenhafte Lockerheit mit Mutter
entschieden, kleine Schäkereien, er neckt sie und darf es, weil er ihr auch den
Mantel abnimmt und weil er im Restaurant ein gutes Publikum ist und ihr
versonnen zuhört, wenn sie erzählt, wie sie den Soldaten Kartoffeln abgetrotzt
hat.
    Â»Weißt du es noch«, fragt sie Annie.
    Â»Ich weiß nur, dass du weg warst«, sagt Annie leise, und nun ist
Mutter in Hochform.
    Â»Eben«, schleudert sie heraus, »immer war ich auf Achse, für dich
habe ich Sachen getan, das ahnst du gar nicht, was Mütter für ihre Töchter tun.
Na, du wirst es ja erleben«, und großzügig nickt sie auch dem Richtigen zu,
»ihr, ihr werdet es alles auch erleben, nur ohne Krieg.«
    Als die Wehen kommen, ist der Richtige bei der Arbeit und Mutter
nicht im Lande. »Woher soll ich wissen, wann es losgeht«, hat Annie die Ärztin
gefragt. »Das merken Sie dann schon.
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