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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman
Autoren: Thomas Glavinic
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1
     
    Das Gestern stand klar vor ihm, das Soeben schwand, zerfloss, ungreifbar und verbraucht.
    An seinem Zelt wurde der erste Leichnam vorbeigetragen, notdürftig bedeckt mit einer im Wind flatternden Plane. Nach den Überresten der zwei anderen Sherpas, die ein tonnenschwerer Sérac im Eisbruch erschlagen hatte, wurde noch gesucht. Weiter oben am Berg, zwischen Lager 3 und Lager 4, waren mehrere Franzosen in einem Schneesturm verschwunden, ohne Funkkontakt und ohne Vorräte an künstlichem Sauerstoff für einen ihrer Kameraden, der angeblich schon das Bewusstsein verloren hatte. Vor kurzem war zudem die Nachricht gekommen, dass in Lukhla ein Flugzeug mit vier Teilnehmern der Green-Future-Expedition vermisst wurde, darunter ein Rabbi und ein amerikanischer Schauspieler.
    Unter den Hunderten und Aberhunderten Menschen, die das Basislager mit ihren Zelten, ihren brummenden Generatoren, ihren vielfältigen Sitten und Gewohnheiten bevölkerten, herrschte gedrückte Stimmung. Viele waren einfach verstummt, andere schrien, einige weinten, manche lieferten sich Wortgefechte. Mittendrin rief eine Frau unablässig nach Batterien für ihr Funkgerät, wobei sie ein Megafon benutzte, das ihr schließlich weggenommen wurde.
    Nachdem sich Jonas davon überzeugt hatte, nirgends gebraucht zu werden, war er wieder auf einem Klappstuhl vor seinem Zelt zusammengesunken. Er betrachtete alles Geschehen wie durch einen Schleier, bemühte sich, Anteil zu nehmen, doch er begriff kaum, was vor sich ging.
    Sein Zustand lag nicht allein an den bohrenden Kopfschmerzen, die die Höhe nach dem zügigen Aufstieg bei ihm hervorgerufen hatte und gegen die auch die roten Pillen aus Helens Apotheke nichts ausrichteten, obwohl sie sonst bei jedem wirkten. Weder lag es an der Mattigkeit, die ihn schon erfasst hatte, ehe er gestern ins Lager gekommen war, noch hatte es etwas mit der Übelkeit zu tun, die ihm die Hygienemängel in den Kloaken auf dem Weg eingetragen hatten und die ihn in unregelmäßigen Abständen hinter ein paar Felsen trieb, wo die Sherpas eine Toilette mit Steinwänden errichtet hatten. Er hatte zwar schlechte Laune, weil er fand, dass manche Sherpas die Yaks, diese wunderbaren zotteligen Märchentiere, die Lasten transportierten, nicht gerade rücksichtsvoll behandelten, aber das war es auch nicht. Vielmehr war die Erinnerung mit Gewalt über ihn hereingebrochen, und er befand sich nicht wirklich hier, vor seinem Zelt im Basislager jenes Berggiganten, der ihn schon als Kind auf geradezu unheimliche Art fasziniert hatte, sondern hatte sich ganz in sich zurückgezogen. Er dachte an den Weg, der ihn hierher geführt, der ihn um die Welt getrieben hatte, der ihn einst in Südamerika auf Marie hatte stoßen lassen, jene Marie, mit der er urplötzlich das Gefühl gehabt hatte, sich im Zentrum eines Jahrhundertsturms wiederzufinden, in ständiger Erwartung von Abenteuer und Chaos, kopflos und ohne Maßstab für das, was in sein Herz drang.
    Jonas steckte fest in Gedanken an den Weg, der kurz nach seinem 18. Geburtstag begonnen hatte, als Picco ihm in einem denkwürdigen Gespräch eröffnete, dass er, Jonas, von nun an über so viel Geld verfügte, wie er niemals würde ausgeben können. Eine Stunde später hatte sich der Mann, dem Jonas alles verdankte, jedenfalls das, was er seine Freiheit nannte, in seinem Landhaus das Leben genommen, zerfressen von seiner elenden Krankheit, und Hohenwarter, Piccos Freund und Berater, hatte die vielfältigen Transaktionen seines Vermögens vollendet. Das war der Tag, an dem es begonnen hatte. Alles.
     
    Ein rauschebärtiger Riese mit einem Funkgerät sah auf Jonas herunter, er schien schon eine Weile auf ihn einzureden. Jonas zuckte die Schultern. Der Miene des Mannes konnte er ablesen, dass es die falsche Reaktion gewesen war. Nach einer Weile dämmerte ihm, dass es sich um Sven gehandelt hatte, einen der Bergführer des Teams.
    Padang brachte heißen Tee. Jonas nickte ihm zu. Er wollte etwas über die Toten sagen, den schmächtigen Koch fragen, ob er Freunde verloren hatte, aber die Wirklichkeit entglitt ihm wieder, machte Platz für Szenen aus seinem Leben, in denen er feierte, in denen er Angst hatte, in denen er lachte, in denen er Schlimmes tat, in denen er allein war und wanderte und reiste, im Auto, im Bus, in Hunderten Zügen, in Tausenden Flugzeugen, auf der Suche nach dem einzigen, für das es wert war zu leben: der Liebe.
     
    »Ob es dir gut geht! Hörst du mich überhaupt?«
    »Ja, ich
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