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Befehl von oben

Befehl von oben

Titel: Befehl von oben
Autoren: Tom Clancy
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Prolog
    Es lag wohl am momentanen Schock, dachte Ryan. Er kam sich vor wie zwei Personen zugleich. Ein Teil von ihm sah aus dem Kantinenfenster des Washingtoner CNN-Büros aufs Fanal, das aus den Trümmern des Capitol emporwuchs – aus orangefarbenem Glühen sprangen gelbe Punkte hervor: wie eine Art grausames Blumenarrangement. Über tausend Leben verkörperten sie, ausgelöscht vor kaum einer Stunde. Benommenheit hielt die Trauer zurück, doch er wußte, sie würde kommen, wie dem Schlag ins Gesicht stets der Schmerz folgt. Wieder einmal hatte der Tod die Hand nach ihm ausgestreckt. Er hatte ihn kommen, innehalten und sich wieder zurückziehen sehen; und das einzig Gute daran war, daß seine Kinder nicht ahnten, wie nah sie einem vorzeitigen Ende gewesen waren. Für sie war das Ganze einfach ein Unglück gewesen, das sie nicht begriffen. Jetzt waren sie bei ihrer Mutter und fühlten sich in deren Obhut sicher, während ihr Vater hier war. Das war leider eine Situation, in die sowohl sie als auch er sich längst hatten fügen müssen.
    Und so starrte John Patrick Ryan auf die Hinterlassenschaft des Todes, und der eine Teil von ihm fühlte noch immer nichts.
    Der andere Teil von ihm sah dasselbe und wußte, daß er etwas tun mußte, und wenn er sich auch die größte Mühe gab, logisch zu denken, gewann Logik nicht die Oberhand, denn sie wußte nicht, was zu tun war oder wo man anfangen sollte.
    »Mr. President.« Die Stimme von Special Agent Andrea Price.
    »Ja?« erwiderte Ryan, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Hinter ihm – er konnte ihre Spiegelung in der Fensterscheibe sehen – standen sechs weitere Agenten vom Secret Service mit den Waffen in der Hand, um andere fernzuhalten.
    Bestimmt zwanzig CNN-Angestellte waren vor der Tür versammelt, teils aus beruflichem – immerhin waren sie Journalisten – Interesse, hauptsächlich aber aus rein menschlicher Neugier angesichts eines historischen Augenblicks. Sie fragten sich, wie es wäre, hier zu stehen, und erkannten nicht, daß solche Ereignisse für jeden dasselbe sind. Ob mit einem Autounfall konfrontiert oder mit einer plötzlichen schlimmen Krankheit: Unvorbereitet setzt der menschliche Verstand einfach aus und versucht, dem Sinnlosen einen Sinn abzuringen – und je ernster die Prüfung, desto schwieriger die Erholungsphase. Aber Leute, die für Krisensituationen trainiert hatten, hatten wenigstens eingeübte Vorgangsweisen als Rückhalt.
    »Sir, wir müssen Sie dahin bringen, wo Sie in …«
    »Wohin? In Sicherheit? Wo wäre denn das?« fuhr Jack dazwischen.
    Dann warf er sich im stillen die Grobheit seiner Frage vor. Mindestens zwanzig Agenten waren Teil des Scheiterhaufens eine Meile vor ihnen, allesamt Freunde der Männer und Frauen, die hier in der CNN-Kantine bei ihrem neuen Präsidenten standen. Er hatte nicht das Recht, sein Unbehagen auf sie zu übertragen.
    »Meine Familie?« erkundigte er sich nach einer Weile.
    »In der Marines-Kaserne, Ecke Eighth und First Street, wie Sie befohlen haben, Sir.«
    Ja, für sie war es gut, berichten zu können, daß sie Befehle ausgeführt hatten, gestand sich Ryan langsam nickend ein. Und für ihn war es auch gut zu wissen, daß seine Anweisungen ausgeführt wurden. Eine Sache hatte er nun schon mal richtig gemacht. War das etwas, auf dem man aufbauen konnte?
    »Sir, wenn das Teil eines organisierten …«
    »War es nicht. Das ist es nie, Andrea, nicht wahr?« fragte Präsident Ryan. Es überraschte ihn, wie müde seine Stimme klang, und er erinnerte sich, daß Schock und Streß einen mehr auslaugten als größte körperliche Anstrengung. Es schien ihm sogar die Energie zu fehlen, den Kopf zu schütteln und dadurch wieder klar zu bekommen.
    »Es könnte aber sein«, gab Special Agent Price zu bedenken.
    Ja, vermutlich hat sie recht. »Also, wie ist hier zu verfahren?«
    »Kneecap«, erwiderte Price und meinte damit NEACP, die fliegende Kommandozentrale für den nationalen Notstand, eine umgebaute 747, die auf Andrews Air Force Base stationiert war. Einen Augenblick dachte Jack über den Vorschlag nach und runzelte dann die Stirn.
    »Nein, ich kann nicht weglaufen. Ich glaube, ich muß dorthin zurück.«
    Präsident Ryan zeigte zur Glut. Ja, dort gehöre ich hin, nicht wahr?
    »Nein, Sir, das wäre zu gefährlich.«
    » Dort ist mein Platz, Andrea! «
    Er denkt auch schon wie ein Politiker, dachte Price enttäuscht.
    Ryan sah ihren Ausdruck und wußte, daß er dies erläutern mußte. Er hatte einmal
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