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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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Wenn das Kind kommt, ist das ein klarer
Fall. Meistens in der Nacht.« »Warum kommen Kinder in der Nacht.« »Weil die Geburt leichter geht, wenn man nichts sieht.«
    Â»Sie werden sich freuen«, hat die Ärztin noch gesagt, »Sie merken es
auch an der Freude.« Kurz vor dem errechneten
Sommertag krampft sich alles in Annie zusammen, unter der zum Zerreißen
gespannten Haut tobt ihr Inneres, und statt sich zu freuen, bekommt sie Angst.
Sie schwitzt und geht langsam in der Wohnung auf und ab. Den Richtigen kann sie
am Telefon nicht erreichen, ein Termin außer Haus, nicht im Lande. Mutter wird
sie nicht anrufen, sie will ihre Tochter allein zur Welt bringen, aber sie will
auch von Mutter festgehalten und vom Richtigen umsorgt werden, und sie schlägt
die Arme um ihre Schultern und geht langsam auf und ab. Die Tasche hat sie
gepackt mit Nachthemden zum Vorne-Aufknöpfen, die Mutter aus skandinavischem
Stoff genäht hat, aber es ist helllichter Tag, nichts von dem, was die Ärztin
gesagt hat, stimmt, und vielleicht sollte sie warten, bis es dunkel wird und
sie sich freut. Aber in ihr zerrt und reißt das Kind, bis sie vergisst zu
atmen, mitten im Flur setzt sie sich auf den Boden, lehnt sich an die Wand und
krümmt sich. Ein Taxi anzurufen kann sie schaffen, sie schafft es auch, mit den
Füßen in die Schuhe zu stoßen und langsam mit der Tasche in der Hand die Treppe
hinunterzugehen, und während der Fahrt zur Klinik schafft sie es, den
interessierten Blicken des Fahrers zu entkommen, der auf ihren Bauch starrt und
sehr behutsam bremst und mehr beschleunigt, als nötig wäre, so eilig hat sie es
auch wieder nicht, Mutter zu werden, obwohl sie es ja schon ist. Sie zahlt ihm
ein großzügiges Trinkgeld, und er hilft ihr aus dem Auto, als wäre sie eine
alte dicke Frau, und genauso fühlt sie sich. Die Tasche trägt er ihr noch
hinterher, die hätte sie doch beinahe vergessen.
    Am Eingang der Klinik lehnt sie sich kurz gegen die Betonbrüstung
des Treppenaufgangs. Auf den Stufen sind verblichene Kaugummiflecken, und einen
Moment lang stellt sie sich Scharen kauender aufgedunsener Hochschwangerer vor,
die noch einen Moment hier verharren, bevor sie ihr Kaugummi ausspucken, in den
Boden reiben und ihre Kinder in die Welt setzen. Der heiße Nachmittag steht um
sie wie eine Glocke, Wehen spürt sie nicht, aber große Müdigkeit, und eine Hand
auf der Stirn wäre gut. Als sie die Tasche nimmt und die letzten Stufen hochgeht, schlurfen die Schuhe bei jedem Schritt, doch das
ist ihr egal.
    Am Empfang ist viel los, jemand schiebt ihr Unterlagen zu, die sie
ausfüllen soll, und eine Schwester bringt sie zur Entbindungsstation. »Bei der
Hitze geht es hier rund«, sagt sie nicht unfreundlich, und als Annie stehen
bleiben muss, läuft sie drei Schritte voraus und wartet. »Ist das etwa Ihr
Erstes.« Annie nickt und stöhnt, sie kann es nicht
zurückhalten, auch wenn sie die Lippen aufeinanderpresst. Auf der Liege, die
die Schwester ihr zuteilt, rollt sie sich gleich zusammen, aber die Schwester
zieht sie gerade und deckt sie mit einem Leinentuch zu, »es geht besser, wenn
Sie nicht so einkrampfen, nachher schaut der Arzt nach Ihnen.« Plastikvorhänge
links und rechts, Annie hört erst nichts, dann Schreie, aber bald achtet sie
nicht mehr darauf, sondern spuckt einen sauren Schwall auf die frisch bezogene
Liege, rollt sich ein und stöhnt dem Kind den Weg frei. Als der Arzt kommt, ist
alles sauer und blutig besudelt und das Kind schon halb da, Annie hockt auf dem
Rand der Liege, ihre Augen rot, alle Äderchen geplatzt, das Kind ein unförmiger
Fisch, der vorandrängt, es soll heraus, und sie stößt und schnauft, aber
schreien tut sie nicht. Der Arzt drückt sie zurück auf die Liege, »bleiben Sie
ruhig, und liegen bleiben, das kommt schon.« Mit einem
Schnitt schneidet er dem Kind den Weg frei, und als Annie den Kopf hochreißt,
drückt die Schwester ihr die Stirn nach unten, »und jetzt pressen.« Der gewaltige feuchte Fisch platzt aus Annie heraus und
ist ihr Kind, und ehe sie begreift, was passiert, sind das Bettzeug gewechselt,
die Plastikvorhänge aufgezogen, und sie liegt in einem skandinavischen
Nachthemd auf frischen Kissen, draußen der Sommertag noch nicht vorbei, und
ihre Tochter ist geboren, das bin ich.
    Ein paar Wochen nach Rügen warst du in der Klinik, sie
hatten etwas am Herzen
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