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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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hat es noch nie gegeben, nur als Strafe:
das Strafschweigen. Aber jetzt ist es anders, du willst mich nicht bestrafen,
du willst gar nichts.
    Merkst du überhaupt, dass ich da bin.
    Ich ziehe einen Stuhl neben das Bett und fasse deine Hand, kühl wie
immer, kein Wunder, wenn du nicht aufstehst, immer nur daliegst.
    â€“ Bald musst du wieder aufstehen, sage ich lauter als gewollt, Mama,
zu Weihnachten auf jeden Fall, spätestens, ich meine, stell dir vor, Weihnachen
hier drin, das geht gar nicht.
    Da drehst du den Kopf zu mir, eigentlich siehst du aus wie immer:
die Haare gut geschnitten, kein graues Haar, die Augen wach. Nur mit deinem
Mund ist etwas los, du sagst etwas, aber ich verstehe kein Wort.
    Ich nicke und drücke deine Hand.
    â€“ Und wie fühlst du dich, tut dir etwas weh.
    Wieder sagst du etwas: Du bewegst die Lippen, es sieht alles ganz
richtig aus, aber ich kann nichts verstehen, es klingt, als hättest du keine
Zähne im Mund.
    So geht das nicht, ich muss verstehen, was du sagst, es ist sicher
wichtig.
    â€“ Was, kannst du das noch mal sagen, Mama.
    Du reißt die Augen weit auf und sprichst ganz langsam, diesmal
verstehe ich dich, aber deine Stimme klingt wie die einer alten Frau, dünn und
verwaschen und mit einem Pfeifen, als hättest du Zahnlücken, durch die die Luft
stößt.
    Ich finde, du könntest sprechen wie sonst auch.
    Du sagst: Wir gehen dann in die Stadt und kaufen dir einen neuen
Mantel, einen schönen.
    â€“ Ohne die Kinder, sage ich, wie auf Rügen.
    â€“ Ja, nur wir beiden, sagst du, und dann machst du eine Handbewegung,
die ein Winken sein kann oder ein Verscheuchen, als sei nun alles klar und ich
wäre entlassen und könnte gehen, und das tue ich dann auch.
    Ganz beruhigt, weil wir dann in die Stadt gehen und mir einen
neuen Mantel kaufen, auch wenn ich keinen brauche.
    Und beim nächsten Mal, als ich komme, sprichst du gar nicht mehr.
    Liegst ganz klein unter der Decke, die
Augen fest geschlossen, die Hände sehr warm und etwas dicker als sonst.
    Und ich sitze neben dir mit den Rügenfotos in der Hand, die ich dir
zeigen wollte, mit einer Zeitung, aus der ich dir etwas vorlesen wollte, und
mit einem Foto von den Kindern.

Montag
    Wenn du jetzt die Augen gar nicht mehr aufmachst, kommst
du mich nicht mehr besuchen, können wir beiden nicht in die Stadt gehen und
keinen neuen Mantel kaufen.
    Dafür erbe ich dann deinen, einen blauen.

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