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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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zieht sie hoch und führt sie aus dem Restaurant an die
frische Luft, bevor Annie irgendetwas tun muss.
    Auch das Kindermachen geht zuerst schnell und schön, aber dann muss
es wachsen, und sie muss sich zur Mutter runden, eine furchtbare Verwandlung,
die sie dem Richtigen manchmal kaum zu verzeihen glaubt.
    Der Bauch eine überspannte Trommel, die Haut so straff, dass sich
der Nabel unappetitlich nach außen stülpt. Die Beine, dürr und staksig, können
nur noch unansehnlich trippeln unter der angeschwollenen Masse, die nun auch
der Richtige nicht mehr oft berührt vor lauter Angst, etwas könne bersten. Das
Gesicht aufgedunsen, als müsste es mithalten, die Finger plump und überreif.
    Mutter lässt sich den Anblick nicht entgehen. Sie ist ein häufiger
Gast, den Richtigen findet sie goldrichtig, und wann immer es geht, kommt sie
mit Sack und Pack angereist.
    Â»So, wie du aussiehst«, sagt sie bei jedem Besuch als Erstes, »wird
es ein Mädchen.«
    Â»Hast du denn schwanger auch so ausgesehen wie ich«, fragt Annie
mürrisch.
    Â»Nein, nein«, erklärt Mutter, »ich war ja sehr schmal, auch der
Bauch war, wie soll ich es beschreiben, fest und schön prall, ich bin nicht so
auseinandergequollen. Wahrscheinlich weil Krieg war, die Angst um das Kind,
weißt du.«
    Â»Aber als du schwanger warst, hatte der Krieg ja noch nicht mal
angefangen«, wendet Annie ein. Mutter wischt den Einwand mit einer abfälligen
Handbewegung vom Tisch, »warst du etwa dabei. Ich hatte immer Angst, immer seit
Hitler.«
    Annie weiß nicht, was die Angst um das Kind, also um sie, mit dem
Bauch der Mutter zu tun hat. »Dafür bist du jetzt fülliger«, sagt sie und
erschrickt gleich. So etwas darf sie an guten Tagen vielleicht sagen, wenn
Mutter sich lachend selbst in den Arm kneift und eine ganze Handvoll Fleisch zu
fassen kriegt, ich habe eben lange genug gehungert. An schlechten Tagen könnte
Mutter sofort maßlos verletzt den Blick abwenden. Bang wartet Annie auf gut
oder schlecht, die Dinge sind einfach, obwohl sie schon so lange erwachsen ist.
Unentschlossen schaut Mutter vor sich hin und dann auf den Kuchenteller, den
sie vorhin, bis auf ein halbiertes Stück Bienenstich, leer gegessen hat. »Ja«,
sagt sie immer noch zögernd, während Annie halb die Augen schließt und mit sich
selbst wettet, ob gut oder schlecht. Die Tritte des Kindes gegen die Bauchwand
beachtet sie nicht, sie stören nicht, helfen aber auch nicht weiter.
    Â»Ja«, auf einmal lacht Mutter ausladend und herzlich, »fett bin ich
geworden, und du weißt, warum«, und sie schnappt sich den halben übrig
gebliebenen Bienenstich und zwinkert Annie zu. »Und nun«, kichert sie durch den
Bienenstich, »nun wirst du mir immer ähnlicher«, und sie lehnt sich
schwerfällig zu Annie hinüber und klopft ihr auf den Bauch.
    Die nächsten Tage sind klamm. Wir schlafen besser als
befürchtet. Morgens liegst du immer von mir weggekringelt, ein schmaler Bogen
unter der Decke, das Haar eine feste Schlafkappe, lautlos atmest du. Ich lege
meine Hand leicht auf die Decke. Wir stehen spät auf, du gehst zum Frühstück
vor, nach einem Anruf zu Hause eile ich dir hinterher, um nicht zu verpassen,
wie du dir deinen Teller füllst, ein bemerkenswerter Appetit hat dich
ergriffen, du stapelst Schinkenröllchen und Minimozzarellas neben Rührei mit
Krabben, drei Tassen Kaffee, sogar ein Joghurt mit Früchten holst du dir, und
als ich staune, lachst du, Appetit wie ein Vögelchen sonst immer, aber hier
isst du, als müsstest du etwas nachholen.
    â€“ Die Oma war doch Kaltmamsell, sage ich tastend, da gab es doch bei
euch sicher oft was Feines, aber du nimmst mit Daumen und Zeigefinger eine
Cocktailtomate, hältst sie gegen das Licht, als wäre sie durchsichtig, und
sagst kühl, wir wollten sie doch unter der Erde lassen. Ich schaue weg, andere
Gäste tragen Omelettes und frisch gebackene Waffeln an ihre Plätze, rastlos
stehen die einen auf, die anderen setzen sich hinter ihre Teller und nicken
sich zufrieden zu. Schon zweimal falsch gefragt, wie lange sind wir denn schon
hier, wie viele Stunden noch übrig, ich muss aufhören, zu zählen und zu warten,
und die Waffeln schmecken verboten gut.
    â€“ Weißt du eigentlich, dass ich nach deiner Geburt drei Monate lang
auf einem Schwimmring sitzen musste.
    â€“ Wieso.
    â€“ Damals haben
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