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Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman
Autoren: H kan Nesser
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1
    I rgendein Morgen.
    Er wachte auf, und wenn es im Zimmer eine wahrnehmbare Veränderung gab, so bemerkte er sie nicht.
    Es war still wie immer. Das graue Licht der Morgendämmerung, das behutsam durch die dünnen Vorhänge drang, war wie immer. Alles war wie immer – scheinbar wie immer : die flache Steinbank unter dem Fenster und der Korbstuhl in der dunkelsten Ecke, ihre Kleider auf dem Ständer, die blattarme Palme, die Fotos der Kinder aufgereiht an der Wand neben der Tür; alles war so wie bei ihrem Einzug vier Jahre zuvor.
    Und in seinem Inneren: ein Traumfragment – ein Verhörraum mit einem Tisch und einem gesichtslosen älteren Mann, der soeben etwas Bedeutsames gesagt hatte –, es verblasste, verschwand in seiner eigenen geheimen Landschaft.
    Und Schwere und Müdigkeit in jedem Glied und Gelenk; ebenfalls unverändert und zunehmend, er war inzwischen in seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr, was man nicht weiter zu beachten brauchte, man musste es lediglich feststellen und damit leben. Er drehte den Kopf und sah auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. In zehn Minuten würde der Wecker klingeln. Widerwillig streckte er die Hand aus und schaltete ihn ab. Wandte sich mühsam um und legte den rechten Arm auf Marianne. Tastete sich auch unter die Decke vor, um Kontakt zu ihrer Haut zu bekommen. Unwichtig wo.
    Noch eine Sekunde lang war es ein normaler Morgen wie jeder andere.
    Dann durchzuckte ihn das Wachsein wie ein elektrischer Schlag – von der Hand über den Arm bis in den ganzen Körper und schlug im Kopf ein wie ein eisiger Blitz.
    Die Kühle. Die Abwesenheit.
    Die absolute Reglosigkeit und Stille. Jede Faser jeder Zelle in ihm wusste, was passiert war, bevor die zähe Membran seines Bewusstseins mit einem stummen Schrei und einem Nein platzte.
    Es war geschehen.
    Es war geschehen. Für eine Reihe von Augenblicken stellten sich nur diese drei Worte ein. Sonst nichts.
    Es war geschehen. Es war geschehen.
    Nach einer Weile ein wenig mehr.
    Es passiert wirklich. Es ist keine Angst. Keine Einbildung. Es ist wirklich geschehen.
    Ich liege hier.
    Marianne liegt hier.
    Es ist Morgen.
    Wir liegen hier an einem Morgen nach irgendeiner Nacht.
    Doch hier liege nur ich.
    Sie liegt nicht neben mir. Wird nie mehr neben mir liegen.
    Es ist geschehen.
    Es ist wirklich geschehen.
    Erneut ließ er seine Hand auf ihrem Körper ruhen. Unwichtig wo.
    Ihrem Körper, mag sein. Aber nicht ihr. So kalt ist keiner.
    Tot.
    Es war 6.26 Uhr am 29. April 2012. Marianne war tot. So war es und nicht anders.
    Und nicht anders.
    Ihre Augen waren nicht ganz geschlossen. So wenig wie ihr Mund. Als hätte sie doch noch ein letztes Bild mitgenommen. Als hätte sie ihm in allerletzter Sekunde noch etwas sagen wollen.
    Vielleicht hatte sie das tatsächlich getan. Ihm etwas gesagt, ein paar Worte ausgesprochen, die eventuell durch den schweren Panzer seines Schlafs gedrungen waren. Oder auch nicht.
    Oder war sie gestorben, ohne sich dessen vorher bewusst zu sein? Er würde es nie erfahren. Er würde niemals aufhören, sich das zu fragen.
    Noch liege ich hier, dachte er. Noch bin ich der Einzige, der es weiß. Ich kann mir immer noch einbilden, dass alles völlig normal ist. Es könnte auch sein, dass ich hier liege und schlafe und das Ganze nur ein Traum ist. Es kann einfach nicht so unbegreiflich schnell gehen. Das ist doch absurd. Von einer Sekunde auf die andere. Das ist einfach nicht …
    Aber all diese Gedanken waren dünner als die Wand der Seifenblase im Moment des Platzens.
    Und sie platzte. Alles war geplatzt.
    »Marianne?«, flüsterte er.
    Marianne?
    Und irgendwo in seinem Inneren antwortete ihre Stimme.
    Ich bin nicht hier.
    Es tut mir leid für dich, aber ich bin weitergegangen.
    Tut mir leid für dich und für die Kinder.
    Kümmere dich um die Kinder. Ich liebe euch. Für euch ist es am schwierigsten, aber eines Tages werden wir wieder vereint sein. Das weiß ich.
    Er nahm ihre Hand, und auch wenn sie nicht mehr zu Marianne gehörte, hielt er sie fest. Spürte ihre stumme Kühle, hielt sie fest und schloss die Augen.
    Um Viertel vor sieben stand er auf. Er hatte gehört, dass sich einige der Kinder im Haus bewegten, und es wurde Zeit, ihnen zu erzählen, dass ihre Mutter tot war.
    Dass sie im Laufe der Nacht in ihrem Bett gestorben war.
    Wahrscheinlich, wie schon einmal, ein Aneurysma. Ein kleines Blutgefäß im Gehirn, das vor anderthalb Jahren geplatzt war. Er war nicht unvorbereitet gewesen. Die Möglichkeit, dass es geschehen
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