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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe
Autoren: Annette Pehnt
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wenn ich
nicht mitwollte, gingst du trotzdem, damit genug im Haus war: die Fächer der
Tiefkühltruhe zum Bersten gefüllt mit Rotkraut, Apfeltorte, Ofenpommes, Butter,
geschichtet wie eine Wand aus Ziegelsteinen, mit Erbsen, Zwiebelsuppe, Pizza
Margherita, Pizza Funghi, Pizza Vier Jahreszeiten, mit Kaiserschmarren für Papa
und Eiswürfeln für Besuch; die Schublade mit nicht verderblichen
Taschentüchern, Dr. Oetker Puddingpulver, Trockensuppe, Brühwürfeln und
Knäckebrot; und im Keller noch mehr, Klopapier, Tomatensuppe, Marmelade, aber
nicht selbst gemacht, niemals. Das hattest du nicht nötig, zum Glück kein Einkochen
mehr, keine Pflaumenbäume, das Gärtchen war viel zu klein. Lieber im Katalog
alles ankreuzen, den gedeckten Apfelkuchen, die Reibekuchen, und den Mann von
Bofrost anrufen. Und jeden Tag den schwarzen Einkaufswagen füllen, nicht besinnungslos,
nicht hemmungslos, verständig kauftest du ein, jeden Tag von Neuem, damit immer
alles im Haus war, und lachtest manchmal über dich selbst.
    Weil Annies Beine nachts beim Alarm nicht mehr gehen, muss
sich Mutter etwas anderes einfallen lassen. Sie findet einen halbsicheren
Keller bei den Nachbarn nur fünf Häuser weiter, also praktisch direkt um die
Ecke, aber auch fünf Häuser sind für beinlose Kinder zu weit. Jede Nacht ist
nun Alarm, sie kann das Kind nicht durch die Straßen zerren, lieber soll Annie
gleich abends runter in den halbsicheren Keller und über Nacht dort bleiben. So
kann sie schlafen und muss niemanden quälen mit ihrer Langsamkeit, und die
Puddingbeine kann sie ausstrecken auf dem Lager, das Mutter für sie bereitet
hat. Das Grundwasser der Nachbarn steht so hoch, dass die alten Möbel, die in
eine Ecke gerückt sind, und die Vorratskisten und die Werkzeuge auf Holzpaletten
ruhen. Auch das Lager steht auf einer Holzpalette, Annie kann, wenn sie sich
über den Rand der Pritsche beugt, durch die Latten auf das Wasser sehen. Aber,
sagt Mutter, da solle sie sich mal keine Gedanken machen, sie solle lieber
schön still auf dem Lager liegen bleiben, sonst bekomme sie noch nasse Füße.
Außerdem soll sie ja sowieso schlafen. Mutter wünscht ihr Gute Nacht und
verschließt die Tür. Natürlich muss sie auch abschließen, denn sonst könnte ja
jeder hineinkommen, man weiß ja nie, wer in diesen Zeiten nachts unterwegs ist.
Mutter schließt also ab und geht hinüber, nur fünf Häuser weiter, sie kann ja
Vater nicht den ganzen Abend allein lassen. Wenn Alarm kommt, ist sie im
Handumdrehen wieder zurück, damit Annie keine Angst bekommt.
    Annie liegt still auf dem Lager, horcht auf das Glucksen des Wassers
unter den Holzpaletten und wartet auf ein Geräusch an der Tür. Weil sie nicht
einschlafen kann, reißt sie die Augen auf und wieder zu, um müde zu werden,
aber es macht keinen Unterschied, die Dunkelheit ist überall.
    Wenn irgendwo eine Sirene ertönt, eine Fabriksirene oder
auch nur eine Feuerwehr, wirst du stumm und ziehst die Schultern hoch. Nicht,
dass du Angst hast, das nicht. Als ich klein war, gab es oft Probealarm.
    â€“ Ein Probealarm, das müssen die machen, um zu sehen, ob die Sirenen
funktionieren.
    â€“ Aber warum müssen die Sirenen überhaupt funktionieren. Wenn kein
Krieg kommt, müssen sie auch nicht funktionieren, dann ist es egal.
    â€“ Na, weil man ja nie weiß, was passiert.
    â€“ Gibt es denn bald Krieg.
    â€“ Nein, hier nicht, sicher nicht.
    Der Probealarm konnte beim Mittagessen ausbrechen, während du die
Nudeln austeiltest oder wenn du am Telefon warst mit der Oma, eines dieser
Endlostelefonate:
    â€“ Nein, Mutter, so habe ich das nicht gesagt, nein, hör mir doch
einen Moment zu, nein, so kannst du das wirklich
nicht sagen, Mutter, aber wenn du mir nicht zuhörst. Mutter, ich versuche schon
seit Stunden, auch mal etwas –
    Da kam der Alarm. Und du ließest den Hörer sinken, stumm geworden,
klein geworden, da konnte die Oma deine Mutter durch den Hörer krakeelen, wie
sie wollte, du warst in einer anderen Zeit: Nächte allein im Keller,
eingefroren auf der Holzpalette.
    Auch die Oma muss diese Nächte noch gekannt haben, auch sie hatte
schließlich ihr Haus verloren, das schöne Elternhaus mit den grünen Fensterläden
und dem Obstgarten, all die Pflaumenbäume, ihre Kleider, das eierschalenfarbene
Hochzeitskleid, das alte schwarz gewölkte Silber,
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