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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram
Autoren: Gregory David Roberts
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langer Kuss, ein Abschiedskuss. Sie lächelte mich an. Es war ein gutes Lächeln, ein wunderschönes Lächeln, ihr schönstes beinahe. Ich sah zu, wie die Rücklichter des Taxis verschwammen und in der Ferne der Nacht verschwanden.
    Ich stand allein auf der seltsam stillen Straße und machte mich zu Fuß auf den Rückweg in Prabakers Slum – ich nannte ihn immer noch Prabakers Slum und habe das nie aufgegeben –, um mein Motorrad zu holen. Mein Schatten wirbelte im Licht der Laternen, verharrte zögernd hinter mir, eilte dann hastig voraus. Die Gesänge des Ozeans verklangen. Die Straße verlief zwischen dem Küstenstreifen und den breiten von Bäumen gesäumten Straßen der neuen Halbinsel, die man, Stein auf Stein, dem Meer abgerungen hatte für die stetig wachsende Inselstadt.
    Aus den Straßen rundum strömten die Leute herbei, die auf dem Fest gewesen waren. Tollkühne Jungen sausten auf Fahrrädern viel zu schnell zwischen den Fußgängern hindurch, ohne jedoch auch nur einen Ärmel zu berühren. Unfassbar schöne Mädchen in schillernd bunten neuen Saris schritten einher, bewundert von jungen Männern, deren Haut und Kleidung nach Sandelholzseife roch. Schlafende Kinder wurden auf den Schultern getragen, und ihre Arme und Beine hingen so willenlos herab wie nasse Wäsche auf der Leine. Jemand sang ein Liebeslied, und Dutzende stimmten mit ein. Ein jeder, der zurückspazierte zu seiner armseligen Hütte oder zu seiner gepflegten Wohnung, lächelte und lauschte den romantischen kitschigen Zeilen.
    Drei singende junge Männer neben mir sahen mein Lächeln und hoben auffordernd die Hände. Ich riss die Arme hoch und sang lauthals den Refrain mit, was sie zutiefst erstaunte und erfreute. Sie legten mir den Arm um die Schultern und geleiteten unsere singenden Seelen gemeinsam in den unzerstörbaren Slum. Jeder Mensch auf der Welt, hatte Karla einmal gesagt, ist mindestens in einem vergangenen Leben Inder gewesen. Und ich lachte, als ich an sie dachte.
    Ich wusste nicht, was ich genau tun würde. Der erste Teil war klar – meine Schuld gegenüber Nasir, dem stämmigen Afghanen, abtragen. Als ich einmal mit ihm über die Schuldgefühle wegen Khaders Tod gesprochen hatte, die mich noch immer heimsuchten, hatte Nasir gesagt: Gut Gewehr, gut Pferd, gut Freund, gut Kampf – wie kann Großer Khan besser sterben? Und ein Stück weit traf dieser Gedanke oder dieses Gefühl auch auf mich zu. Es war einfach richtig für mich – obwohl ich mir diese Haltung selbst nicht erklären konnte –, mein Leben gemeinsam mit guten Freunden für eine wichtige Mission aufs Spiel zu setzen.
    Und es gab noch so vieles zu lernen, so vieles, das Khader mich lehren wollte. Ich wusste, dass sein Physiklehrer, der Mann, von dem er mir in Afghanistan erzählt hatte, in Bombay lebte. Sein anderer Lehrer, Idriss, befand sich in Varanasi. Wenn ich von Nasirs Mission in Sri Lanka nach Bombay zurückkehrte, warteten neue faszinierende Welten des Wissens auf mich.
    Unterdessen konnte ich auf meine sichere Stellung im Sanjay-Klan zählen. Ich hatte Arbeit, Geld und ein wenig Macht. Für eine Weile war ich in der Bruderschaft geschützt vom langen Arm des australischen Gesetzes. Ich hatte Freunde im Klan, im Leopold’s, im Slum. Und ja, vielleicht gab es sogar eine neue Liebe.
    Als ich zu meinem Motorrad kam, ging ich daran vorbei, in den Slum. Ich wusste nicht genau, warum. Ich folgte einem Gefühl und vielleicht dem großen schwellenden Mond. Die schmalen Gassen, diese gewundenen Wege der Mühen und Träume, waren so vertraut und beruhigend für mich, dass ich mich staunend der Angst entsann, die ich früher hier empfunden hatte. Ohne Ziel schlenderte ich einher, begleitet vom Lächeln der Männer, Frauen und Kinder, meinen einstigen Nachbarn oder Patienten, die zu mir aufblickten, als ich vorüberwanderte. Schwaden von Essensgerüchen, vermischt mit Seifenduft, Tierausdünstungen, Petroleumlampen, Weihrauch und Sandelholz von Tausenden kleiner Altäre in Tausenden kleiner Häuser begleiteten mich.
    An einer Ecke stieß ich mit einem Mann zusammen, und während wir uns beide hastig entschuldigten, erkannten wir uns. Es war Mukseh, der junge Dieb, der mir im Polizeirevier von Colaba und im Gefängnis in der Arthur Road geholfen hatte: der Mann, dessen Freilassung ich verlangt hatte, als Vikram mich auslöste.
    »Linbaba!«, schrie er und packte meine Oberarme. »Wie schön, dich zu sehen! Arrey! Was ist los?«
    »Bin nur zu Besuch«, sagte ich
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