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Sellavie ist kein Gemüse

Sellavie ist kein Gemüse

Titel: Sellavie ist kein Gemüse
Autoren: Thommie Bayer
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nur mit Klassik. Nur Klassik hat überhaupt den Wumm, den der Verstärker verkraftet. Und die Dynamikunterschiede. Wozu soll ich mir ‘ne CD kaufen, wenn alles gleich laut ist. Erst wenn’s mal richtig leise wird, hör’ ich doch, daß da nichts, aber auch gar nichts mehr rauscht. Und richtig leise wird’s halt nur bei Klassik. Und außerdem ist man keine vierunddreißig mehr.
    Die Platten hier? Laß mal sehen, Barclay James Harvest, Jennifer Rush, Chris Rea, Dire Straits, Chris de Burgh, die sind von meinem Sohn. Ja, der ist ‘n ganz großer Softrockfan. Hier, da drüben, das sind meine. Rondo Veneziano, Orchester Christian Kolonovits, Zwanzig Klassik Hits, Uhrwerk Orange und hier die Justus-Frantz-Kassette, das sind alles meine. Sind noch nicht so viele. Mein Sohn hat natürlich mehr. Hier, die meisten sind seine. Ich hau’ doch nicht jede Woche dreißig Mark auf den Kopf. Der gibt sein Geld ja für nichts anderes aus. Wie alt der ist? Zwölf ist der. Hat aber schon ‘n ganz schön frühreifen Geschmack. Keinen schlechten Geschmack, finde ich. Für Pop-Musik ist das alles doch ganz gut, was der sich da zusammenkauft. Ach ja hier, Für Elise etc. das ist auch meine und hier die Golden Classics Volume eins bis vier. Und hier, das ist überhaupt mein Favorit: Gustav Mahler, Tod in Venedig. Dachte ich zuerst, ist vom gleichen wie Spiel mir das Lied vom Tod. Damals kannte ich Gustav Mahler noch nicht.

Aus dem Kuckucksei gepellt
    Der Unsichtbare

    Mein Schlüsselerlebnis hatte ich vor elf Jahren. Ein Achthundert-Mark-Anzug sprach zu mir aus dem Schaufenster eines feinen Herrenausstatters. Ich war gerade ebenso frivoler Laune wie flüssig und kaufte ihn. Schon im Laden flog mich dieses Gefühl an, nicht hierherzugehören. Ich schaute heimlich nach, ob meine Fingernägel nicht zu lang sind, vermied es, im Spiegel meinen Haarschnitt zu überprüfen, da er den Ansprüchen hier im Laden nicht genügen konnte, und ich wußte auch genau, daß mir außer sauberen Schuhen ein teurer Geruch fehlte. Entsprechend flapsig wurde ich bedient und genoß die Situation auf meine Weise, indem ich beim Bezahlen die Kreditkarte zog und nicht das Bargeld. Obwohl ich genügend einstecken hatte. Der Anzug, den ich gleich anbehielt, war beige mit eingewebten blauen Streifen. Nicht gerade ein extra vulgärer Gangster-Anzug, aber doch für einen Vertreter oder Angestellten eine Spur zu pfiffig. Auch als Politiker hätte man so etwas nicht tragen dürfen, allenfalls ein Werbefachmann, mittlerer Manager einer Zukunftsbranche oder Fernsehjournalist kann sich diese Art Kleidung leisten.
    Ich ging in mein Stammcafé und stellte fest, daß ich unsichtbar war. Noch nicht einmal Armando, der italienische Barkeeper erkannte mich, geschweige denn Stefan, der junge Anwalt oder Till, der einen Plattenladen hat. Auch Doro, die etwas später kam, sah mich nicht. Dabei verging nie ein Tag, an dem wir nicht ein paar Worte miteinander gewechselt hätten, obwohl wir, das war wie eine feste Regel, immer an verschiedenen Tischen saßen. Und dabei ignorierten sie mich nicht etwa. Es war nicht so, daß ich durch irgend etwas, zum Beispiel diesen neuen Aufzug, bei ihnen in Ungnade gefallen wäre, nein, sie sahen mich ganz einfach nicht. Ich hatte mich unsichtbar gemacht. Ich war zufällig auf ein Geheimnis gestoßen, das mir seither viel Freude gemacht hat.
    Der Witz dabei war, daß ich nicht nur für meine Freunde, also die eigene Szene unsichtbar war, nein, auch die Männer, die solche Anzüge tragen oder die Frauen, die nach solchen Männern Ausschau halten, sahen mich nicht. Ich wurde also nicht etwa von der falschen Szene gesehen, sondern gar nicht. Als Uniform funktioniert ein solcher Anzug nämlich nur mit Krawatte, Aktenkoffer, entsprechendem Haarschnitt und passenden Schuhen. So wie ein dunkelblauer Dufflecoat alleine noch keinen jungen Menschen, der klassische Musik spielt, ausmacht. Es muß dazu die weinrote Cordhose kommen, ein langer Wollschal, bei Männern ein Bartanflug und bei Frauen eine Spange im Haar, bei beiden Geschlechtern eine blasse Gesichtsfarbe, eine eher dünnrandige Brille und flache, aber klobige Schuhe, bei Frauen eine Bluse und bei Männern ein Hemd, dessen Ärmel auf keinen Fall hochgekrempelt sein dürfen. Erst dann ist der junge Klassiker perfekt. Änderte man auch nur ein Teil des Ensembles, fiele man schon wieder heraus. Ohne Schal und mit brauner Cordhose zum Beispiel wäre der Mann dann ein Mathematiker oder Physiker, der
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