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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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verblassten, die Gegenstände tauchten wieder auf wie Bilder einer Diashow, die nacheinander eingeblendet werden, doch sie waren nicht wirklicher als zuvor. Du hast dich aufs Sofa fallen lassen, sein flauschiger Bezug berührte dich sanft, doch war diese Empfindung von keiner Erinnerung begleitet. Dein Gedächtnis schien ausgeschaltet. Du bist zu einem Foto deiner Frau gegangen, das in einem Regalfach des Bücherschranks stand. Du hast es teilnahmslos angeschaut, als handelte es sich um das Portrait einer Unbekannten auf einem Passbildautomaten. Während deine Gefühllosigkeit dich zu beunruhigen begann, hörtest du Schritte auf dem Fußboden. Du drehtest dich um, es war deine Frau. Sie berichtete dir von einem Abendessen, zu dem ihr in der nächsten Woche eingeladen wart und von dem sie annahm, du würdest es absagen. Ein Widerruf entfuhr deinem Mund, bevor du überhaupt nachgedacht hattest, was du sagen wolltest. Deine Frau zeigte ihr Erstaunen, aber du sahst nichts darin als eine abstrakte Grimasse. Es war durchaus sie, du erkanntest sie, aber du fragtest dich, ob du sie kanntest. Sie war abstrakt wie die Gegenstände auf dem Boden, von denen ihre Silhouette sich abhob. Sie schaute dich an, sie wartete auf eine Reaktion deinerseits, doch dein Gesicht blieb ausdruckslos. Der körperliche Exzess deines Laufs hatte dich in einen Wachtraum gestürzt, aus dem du nicht wieder hinausfandst. Was sich zwischen deinen Schläfen, deinen Augen und der Rückseite deines Schädels abspielte, gehörte nicht mehr zu dir. Du wurdest von körperlichen Automatismen gelenkt. Deine Schritte führten dich daraufhin ins Bad, um zu duschen. Doch auch die Kälte der Fliesen unter deinen Füßen, der Geruch der Seife und das warme Wasser, das über deinen Schädel floss, konnten dich nicht aus deiner Benommenheit holen. Nach der Dusche legtest du dich hin, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Du warst von dir selbst getrennt, entspannt bis zur Empfindungslosigkeit. Deine Gleichgültigkeit hätte dir Angst machen müssen, aber selbst deine Gleichgültigkeit ließ dich gleichgültig. Du bist aufgestanden, hast dich angezogen und bist zu deiner Frau gegangen, um mit ihr mittagzuessen. Bei Tisch hast du auf ihre Worte mit vagen Formulierungen reagiert, die keine Antwort beinhalteten. Du hast den Rest des Tages bis zum Einbruch der Dunkelheit wie ein Schlafwandler verbracht. Als du die Lampen anschaltetest, waren sieben Stunden seit deinem Lauf vergangen. Du begannst langsam aufzuwachen. Der körperliche Exzess hatte dich ausgepumpt. Du hast beschlossen, deine Anstrengungen in Zukunft besser zu zügeln, damit sie sich nicht gegen dich wandten. Du musstest das richtige Maß finden, damit Sport dich entspannen konnte, ohne dich auszulöschen.
    Du hast dein Ende genau geplant. Du hattest das Szenario bewusst so entworfen, dass man deinen Körper unmittelbar nach deinem Tod finden würde. Du wolltest nicht, dass er tagelang vor sich hin faulen und man ihn halb verwest auffinden würde wie einen von aller Welt vergessenen Einsamen. Du tatst deinem lebenden Körper zwar Gewalt an, aber deinen toten wolltest du keinen anderen Erniedrigungen aussetzen als jenen, die du ihm selbst zufügen würdest. Du sorgtest dafür, dass du deiner Frau und denen, die deinen Körper wegtrugen, genau so erschienst, wie du es vorgesehen hattest.
    Du hast wenig, aber mit großer Genauigkeit gesprochen, und wenn dir dein Gesprächspartner vertraut war, auch mit großer Leidenschaft. Du warst kein Gesellschaftsmensch. Bei Partys bist du nicht auf Unbekannte zugegangen, um mit ihnen Smalltalk zu treiben. Du hast neue Leute nur kennengelernt, wenn sie sich dir zuwandten. Du konntest sehr wohl mit jedermann Gespräche führen, aber du zogst es vor zu fragen, statt zu antworten. Du konntest endlos jemandem zuhören, der auf deine Fragen reagierte, oder auch mehreren Personen, die gemeinsam ein von dir aufgeworfenes Thema erörterten. Da du nicht gern öffentlich von dir sprachst, erlaubten dir deine Fragen, dich hinter der Rolle des Zuhörers zu verstecken.
    In der Nacht hast du das Vergehen der Zeit weniger wahrgenommen. Deine Pflichten des Städtebewohners waren auf den nächsten Tag verschoben. Kein gesellschaftliches Ereignis lenkte dich mehr von dir selbst ab. Du konntest nachdenken, ohne dich schuldig zu fühlen und ohne andere Begrenzung als deine Müdigkeit.
    Während du mit geschlossenen Augen schlaflos dalagst, hob die Zeit sich selbst auf, und Gedanken und
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