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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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vereinen; die vergangenen Jahre würden an einem vorüberziehen, während sich Aussichten auf nächste Zusammenkünfte abzeichneten.
    Im großen Garten des bürgerlichen Hauses im Stadtzentrum waren etwa zehn Paare zusammengekommen. Die Mädchen und Jungen aus deiner frühen Jugendzeit hatten ihre Partner mitgebracht. Sie waren nun erwachsen, einige hatten auch Kinder dabei. Du schautest ihre Gesichter an und mochtest diesen seltsamen Eindruck der Überlagerung ihrer gegenwärtigen und ihrer erinnerten Versionen; es glich einem Morphing im Film, bei dem sich das Gesicht ein und desselben Körpers innerhalb weniger Sekunden in ein anderes verwandelt. Doch die gegenwärtigen Gesichter, die du vor dir hattest, löschten die alten nicht aus, die in dein Gedächtnis geprägt waren. Du würdest mit diesen Leuten eine ganze Zeit lang verkehren müssen, damit die Gegenwart die Vergangenheit vollständig ersetzte und die in deinem Hirn gespeicherte Personenakte mit dem Körper, den du vor dir hattest, verschmelzen würde. Wenn du an diesem Abend mit einer Frau sprachst und dich dann einige Minuten von ihr abwandst, vertauschten sich beide Bilder von ihr auch dann noch, wenn du sie ein zweites Mal anschautest. Du verbrachtest einen Teil des Abends damit, mit diesen Verwirrungen der Wahrnehmung zu spielen wie mit einer Ankleidepuppe, für die man wahlweise zwei Ausstattungen zur Verfügung hat. Doch wenn du wolltest, konntest du die alten Bilder auch verdrängen und dich mit deinen Gesprächspartnern unterhalten, als seien sie neue Bekannte. Wenn du dich umgekehrt in die Vergangenheit versetztest, erreichten dich die gesprochenen Sätze wie ein weit entferntes Murmeln, wie die Rede einer Person aus einem Traum in einer fremden Sprache, deren Klang einem dennoch vertraut ist.
    Christophe hatte Rinder- und Schweinesteaks, Würstchen und Kartoffeln vorbereitet. Er briet sie auf den beiden Grills, die einige Meter von den mit Papiertischdecken hergerichteten Tischen entfernt aufgestellt waren. Teller, Besteck und Plastikbecher standen für die Gäste bereit. Mehrere Tetrapacks mit Rot- und Weißwein warteten neben Fruchtsäften und billigen Limonaden. Normalerweise widerstrebten dir solch derbe Menüs, und das umso mehr, als die Schwaden, die ihre Zubereitung entstehen ließ, bei ungünstiger Windrichtung die ganze Gesellschaft einhüllten und die Kleider bis zum nächsten Tag einräucherten. Doch an diesem Abend spielte all das keine Rolle. Der Grund dafür lag nicht in der Annehmlichkeit des schönen Gartens mit dem blühenden Fliederbusch. Allein das Wiedersehen mit deinen Bekannten bereitete dir soviel Vergnügen, dass der Schauplatz nicht zählte. Der Blick deiner Frau strahlte vor Begeisterung, dich glücklich zu sehen; da sie niemanden kannte, hatte sie selbst keinen Anteil an der Wiedersehensfreude. Sie fühlte sich fremd in dieser Szenerie, aber diesen Leuten doch vertraut, weil sie es für dich waren. Du schenktest deiner Seligkeit keine Beachtung – bis zu dem Augenblick, als du sie anschautest und verstandst, wie glücklich du warst, hier zu sein. Sie war dein Spiegel.
    Christophe näherte sich mit einem Teller, den er für dich zusammengestellt hatte. Gerührt von seiner Zuvorkommenheit nahmst du ihn ab und begannst zu essen. Die Speisen waren verkocht, das Fleisch teilweise verkohlt. Doch diese Kleinigkeiten änderten nichts an deiner Euphorie, vielleicht machten sie diese sogar aus, denn so konntest du sie in nichts anderem begründet sehen als in der Begegnung mit den Leuten, die hier zusammenfanden.
    Während es Nacht wurde und die Stunden verstrichen, sprachst du mal mit dem einen, mal mit anderen. Wenn du dich vertraulich einem alten Freund zuwandtest, gelang es dir sogar, deine Worte für richtig zu halten. Sprachst du dagegen mit zwei Personen, suchtest du nach Formulierungen, die für beide gleichermaßen verständlich waren. Du fandst sie nur selten: Ihre Körper, welche die Einzigartigkeit eines jeden deutlich machten, brachten dir in ihrem Nebeneinander erneut zu Bewusstsein, wie schwierig es ist, mit mehreren Einzelnen gleichzeitig zu sprechen. Doch wenn du kurz darauf eine Geschichte einer ganzen um dich versammelten Runde erzähltest, suchten deine Worte keinen besonderen Adressaten, und das Gesagte konnte von jedem auf seine Weise verstanden werden, ohne dass du dich sorgen musstest, was davon ankam. Du nahmst keine einzelnen Personen mehr wahr, sondern eine Gruppe, in der sich die Individualitäten
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