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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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Situationen kreisten mit der Regelmäßigkeit einer Uhr in deinem Hirn. So wie ein Erwachsener einem Kinderkarussell zuschaut, beobachtetest du die Schleifen deiner Träumereien. Sie brachten dir verborgene Erinnerungen zu Bewusstsein, die im selben Augenblick, in dem du sie erkanntest, wieder verschwanden, um bei der nächsten Runde wieder aufzutauchen, bevor sie erneut verschwanden. Du sahst Szenen ablaufen wie in einem Film, dessen passiver Zuschauer du warst. Durch die Wiederholung verloren die Handlungen ihre Bedeutung. Du konntest weder sagen, wie lange sie dauerten, noch, wieviel Zeit du damit verbrachtest, ihnen zuzuschauen. Du schaltetest das Licht nicht an, um auf die Uhr zu sehen, doch wenn das Tageslicht durch die Fensterläden drang, glaubtest du, seit dem Zubettgehen nicht geschlafen zu haben. Deine Frau dagegen versicherte dir beim Aufwachen, sie hätte dich im Traum unverständliche Sätze murmeln gehört. Du hattest geschlafen, ohne es zu bemerken. Du hattest den Zustand der Müdigkeit mit dem des Erwachens verwechselt.
    Du hast mir zwei deiner Träume erzählt. Im ersten hältst du ein rosa Pappschild in der Hand, auf dem in roter Kursivschrift Das ewige Eichhörnchen geschrieben steht. Du verstehst die versteckte Botschaft so: Es handelt sich um eine Einladung zur Hochzeit eines alten Freundes, den du seit zehn Jahren aus den Augen verloren hast. Sie findet am selben Tag in Finnland statt. Ein Hubschrauber setzt dich am oberen Rand eines Fjords ab. Unten sind Tische gedeckt, und die versammelte Gesellschaft begrüßt dich von Weitem wie einen Ehrengast. Du kannst deutlich alle Gespräche gleichzeitig verstehen, obwohl sie dreihundert Meter weiter unten geführt werden. Du schaust die Einladungskarte an, und schon befindest du dich inmitten der Feier; alle anwesenden Frauen sind ehemalige Geliebte von dir. Um fünf Uhr entkleiden sich die Eltern des Brautpaars und tauchen in den Fjord. Die Gäste tun es ihnen gleich. Das Wasser schmeckt nach süßen Johannisbeeren, man kann es sogar riechen. In diesem vollkommenen Fruchtwasser beschläfst du deine ehemaligen Freundinnen, eine nach der anderen. Sie lieben sich ebenso wie du sie liebst.
    Im zweiten Traum versuchst du, einem bewaffneten Mann zu entkommen, der dich in einem Opernsaal inmitten einer Aufführung von Norma verfolgt. Ihr schlagt mehrmals aufeinander ein, aber keiner von euch beiden gewinnt die Oberhand, erst am Ende der Vorstellung gelingt es deinem Gegner, dich in einen kleinen Raum zu zerren, der den Saal überragt und in dem dich ein »sehr spezieller Mann erwartet, der begeistert sein wird, Sie kennenzulernen«. In diesem Raum gibt es mehrere Computer und Videobildschirme. Der Mann dreht dir zu Dreivierteln den Rücken zu, du kannst sein Gesicht nicht sehen. Erst als du um ihn herum gehst und dich ihm näherst, entdeckst du mit Entsetzen, dass es kein Mann ist, sondern ein androider Roboter aus gelbem, verchromtem Metall. Er schaut dich mit seinen kalten Augen an, zeigt auf einen Sitz und spielt ein Video ab, das dich auf einem Operationstisch zeigt, wo du entspannt gähnst und unter der Wirkung von Beruhigungsmitteln einschläfst. Chirurgische Apparate, die eigentlich Folterinstrumente sind, senken sich aus in der Decke versteckten Kästen herab. Ein beweglicher Arm mit mehreren Nadeln bewegt sich auf deine Hoden zu, die eine mechanische Hand abgebunden hat. Dir wird bewusst, dass du in jüngerer Vergangenheit entführt und operiert wurdest, ohne es zu wissen.
    Der erste Traum war dir lieber, doch die Lust, die du beim ersten empfandst, und die Not, in die der andere dich brachte, bereiteten dir den gleichen Genuss des Wiedererinnerns. Ob Wunschtraum oder Albtraum spielte keine Rolle, solange du die Verwirrung empfinden konntest, im Wachzustand Dinge noch einmal aufleben zu lassen, die dir im Traum begegnet waren.
    Einmal bist du aufgebrochen, um mit deinem Bruder und deiner Schwester an einem Strand in der Normandie bei Ebbe spazierenzugehen. Ihr wart barfuß und trugt Badekleidung. Die endlose Fläche von Sand und Wasser ähnelte einer Wüste. Es war mitten in der Woche und außerhalb der Saison. Es gab nichts anderes zu tun als zu laufen und das Meer in der Ferne und die Häuser längs der Küste anzuschauen. Während du still deine Gedanken im Rhythmus der Schritte wiegtest, redeten dein Bruder und deine Schwester unablässig miteinander. Sie erzählten sich komische Geschichten, erfanden einfache Spiele, rannten kichernd davon,
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