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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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ähnelte es einer Fremdsprache. Als du am Ende dieses abstrakten Texts angekommen warst, der für dich den Charme eines eigenartigen Gedichtes hatte, standst du auf und empfandst Lust, ein Unternehmen zu gründen. Du gingst zur Bibliothek, um Bücher über den juristischen Status verschiedener Gesellschaftsformen zu suchen. Die Bibliothek war geschlossen, du hattest vergessen, dass Sonntag war. Es juckte dir in den Beinen, du ranntest im Sprint zurück, du versprühtest eine völlig unkontrollierte körperliche Energie. Du hieltst vor einer alten Mauer an, aus der ein Silexstein herausstand, und bekamst Lust, ihn aufzuessen. In dem Moment, als du dich dem Stein nähertest, wurde dir mit einem Schlag die Ungereimtheit deines Verhaltens bewusst. Doch genauso schnell vergaßt du sie wieder. Du setztest deinen unbändigen Lauf fort. Dir war heiß, das Wetter war schön, die Sonne beflügelte dich. Wie ein kleines Kind schautest du zum Trotz direkt in sie hinein. Deine Augen tränten. Der leichte Schmerz gefiel dir. Die Blendung verwandelte die Straße in eine monochrome weiße Fläche, auf der du nun langsamer liefst, um ihre Schönheit zu genießen. Nach und nach kamen die Farben zurück, wie bei einem Spezialeffekt im Film. Das brachte dich auf die Idee, in Zeitlupe zu gehen, um einen weiteren Spezialeffekt an deinem Körper auszutesten. Du brauchtest eine halbe Stunde, um dein Haus zu erreichen, du gingst durch den Garten wie eine Schildkröte. Deine Frau tauchte auf der Außentreppe auf und fing an zu lachen. Du brachst deinerseits in wildes, unkontrolliertes Gelächter aus, das abrupt wieder verstummte – zum großen Unverständnis deiner Frau. Dir war ein Fensterladen in den Blick geraten, dessen Farbe abblätterte, und du machtest dich daran, ihn neu anzustreichen. Die Dunkelheit und der Geruch der Abstellkammer, in der du die Pinsel aufbewahrtest, brachten dich plötzlich in die Wirklichkeit zurück. Der vertraute Geruch erinnerte dich an deinen Zustand vor den Antidepressiva. Dir wurde bewusst, wie künstlich die Euphorie war, in die sie dich versetzten. Die Phasen der Niedergeschlagenheit, die auf den Enthusiasmus folgten, waren noch intensiver als vorher. Du konntest dich weniger beherrschen, die Medikamente hatten deine Stimmungen im Griff. War das bisschen falsches Glück es wert, deine Willensfreiheit einzubüßen? Du entschiedst dich, mit diesen chemischen Krücken aufzuhören, die dich verdoppelten oder betäubten. Doch dein Körper hatte sich daran gewöhnt. Du musstest zwei Wochen voller neuer Ängste und Verzweiflung durchstehen, bevor du wieder du selbst wurdest.
    Zerlegt man Ereignisse in ihre Bestandteile, in Beginn, Verlauf und Ende, so war dir der Anfang am liebsten, denn bei diesem übertrifft das Verlangen den Genuss. Am Anfang tragen die Ereignisse noch jenes Potenzial in sich, das sie mit ihrem Ende verlieren. Das Verlangen kann so lange währen, wie es nicht befriedigt wird. Der Genuss dagegen markiert das Ende des Verlangens und kurz darauf auch das des Genusses selbst. Eigenartig, dass ausgerechnet du, der die Anfänge liebte, dich umgebracht hast: Ein Selbstmord setzt ein Ende. Hast du geglaubt, er sei ein Anfang?
    Du hast Tennis, Squash und Pingpong gespielt. Du bist geritten. Du bist geschwommen. Du bist gejoggt. Du bist gesegelt. Du bist durch Städte gelaufen und übers Land gewandert. Du hast keine Mannschaftssportarten praktiziert. Du hast dich lieber selbst verausgabt, ohne von Mitspielern abzuhängen. Du spieltest zwar gern gegen einen Gegner, aber weniger, um ihn zu besiegen, als um dich in deiner eigenen Anstrengung anzuspornen. Wenn du allein querfeldein rittst oder wenn du im Meer, in einem Fluss oder einem Schwimmbad kraultest, kam es manchmal vor, dass die Absurdität deines Tuns dir inmitten der Anstrengung die Lust nahm. Sport war sinnlose Aktion. Du hast ihn eher aus dem Bedürfnis nach Verausgabung getrieben als aus Lust am Spiel. Wie ein Tier produzierte dein Körper mehr Energie als er benötigte. Der Kraftüberschuss, der sich anstaute, wandte sich gegen dich, wenn du ihn nicht herauslassen konntest. Wenn du dich eine Woche lang nicht abreagiertest, fingst du an, mit den Füßen zu trampeln; deine Muskeln waren angespannt, wenn du aufwachtest, und sie entspannten sich erst wieder, wenn es Nacht wurde.
    Um die Auswirkungen eines Entzugs zu ermessen, hast du einmal einen Monat lang keinen Sport getrieben. Kein Tennis, kein Ritt, keine Bootstour, kein Schwimmen, kein
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