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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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Aktenordner auf. Du dachtest an die lange Liste der Dinge, die zu erledigen waren, ohne deinen Verstand ordnen zu können. Die Unruhe ließ dich grundlos von einer Verrichtung zur nächsten springen, ohne dass du auch nur eine zu Ende brachtest. Am Abend hinderte dich Nervosität am Schlafen. In den ersten Tagen warst du vor Schlafmangel trunken wie nach einer durchgemachten Nacht. Doch nach zwei Wochen waren deine Reserven erschöpft. Deine Schlafstörungen machten dich benommen. Du wurdest blöde. Dein Gedächtnis setzte aus. Du hattest Mühe, dich an Namen zu erinnern, selbst an die von Leuten, die du gut kanntest. Es kostete dich zwei Tage, den Namen einer Freundin wiederzuerinnern, die du nur ein paar Monate lang nicht gesehen hattest. Ihr Gesicht und ihre Stimme tauchten ohne Schwierigkeiten auf, doch ihr Name schien niemals existiert zu haben. Du fandst ihn erst wieder, als du dein Adressbuch durchforstetest. Du suchtest noch einmal den Arzt auf, und er verschrieb dir ein anderes Antidepressivum, das zugleich als Schlafmittel fungierte. Du fandst sofort einen tiefen Schlaf wieder, aber du wachtest auch nicht mehr wirklich daraus auf. Tagsüber triebst du in einem Dämmerzustand dahin. Du sprachst verlangsamt, artikuliertest schlecht und antwortetest immer mit Verzögerung auf Fragen, die man dir stellte. Dein Gang wurde schwerfällig. Du zogst die Fersen nach. Auf der Straße liefst du auf unnormale Weise immer geradeaus und wichst Hindernissen erst im letzten Moment aus. Manchmal ignoriertest du sie ganz. Du durchquertest völlig gleichgültig eine Pfütze oder stießt mit der Schulter an eine Straßenlaterne. Die Passanten auf der Straße drehten sich nach dir um. Du lebtest in einer unmittelbaren Gegenwart. Dein Kurzzeitgedächtnis ließ nach. Du konntest die Dinge, die man dir eben erst erzählt hatte, nicht behalten. In der Mitte eines Berichts fragtest du dich, wie er begonnen hatte. Doch nur wenn deine Fragen sich wiederholten oder du dich nach eben erst erwähnten Dingen erkundigtest, bemerkten deine Gesprächspartner deine Geistesabwesenheit. Eine Woche nach dem Beginn der Einnahme des neuen Antidepressivums warst du ein Gespenst geworden. Du tauchtest aus diesem Koma nur noch auf, um über die Stumpfheit zu klagen, in die es dich versinken ließ. Der Arzt, den du ein weiteres Mal aufsuchtest, verschrieb dir ein drittes Medikament. In der ersten Woche machte sich keine Wirkung bemerkbar außer dem Ausbleiben von Müdigkeit. Doch von der zweiten Woche an verspürtest du in völlig unvorhersehbaren Momenten eine ungewöhnliche Aufregung. Eines Morgens standst du müde auf. Obwohl du früh zu Bett gegangen und die ganze Nacht liegengeblieben warst, hattest du lediglich zwei Stunden geschlafen. Bis zum Mittag lebtest du wie in Zeitlupe, und plötzlich brach eine grundlose Euphorie aus. Du sprachst schnell und wurdest chaotisch und maßlos geschäftig. Während du mit deiner Mutter telefoniertest, stelltest du unablässig die Lebensmittel im Kühlschrank um und betrachtetest die Küche im Hinblick auf radikale Veränderungen, die du plötzlich an ihrer Einrichtung vornehmen wolltest. Du unterbrachst abrupt das Gespräch, um im Keller nach einem Spaten zu suchen. Du wolltest einen Erdhaufen im Garten wegschaufeln, der schon seit Monaten darauf wartete, entfernt zu werden. Der Spaten war unauffindbar, aber du stießt auf alte, modrige Obstkisten, die du aufeinander stapeltest. Du hobst den Stoß auf, er reichte dir bis über den Kopf. Blindlings liefst du auf die Straße und in Richtung Müllabladeplatz, der einen Kilometer von deinem Haus entfernt lag. Als du zurückkamst, stelltest du fest, dass du die Türen sperrangelweit offen gelassen hattest und auf dem Gasherd ein Topf angebrannt war. Diese Geschichte gab dir den Rest. Du setztest dich aufs Sofa und verspürtest einen heftigen Schmerz in den Schläfen, als spanne eine Schraubzwinge sie zusammen. Du klopftest mit den Fingern auf deinen Kopf, er klang hohl wie ein Totenschädel. Plötzlich hattest du kein Gehirn mehr. Oder es war das eines anderen. Zwei Stunden bliebst du so sitzen und fragtest dich, ob du eigentlich du selbst warst. Ein Dokument, dessen Rand unter dem Sofa herausschaute, zog deine Aufmerksamkeit an. Es war der Jahresbericht einer großen internationalen Bank. Du wusstest nicht, wie er dorthin gelangt war, aber du last ihn mit großer Aufmerksamkeit durch. Du verstandst nicht wirklich, was du last. Es war zwar Französisch, doch
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