Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
Vom Netzwerk:
Lauf, keine Wanderung. Du standst unter Hochspannung. Wie eine zu voll aufgeladene Batterie drohtest du zu schmelzen oder zu explodieren. Deine Gesten beschleunigten sich. Im Umgang mit gewöhnlichen Dingen fühltest du dich so ungeschickt, als handelte es sich darum, eine komplizierte Maschine zum ersten Mal zu bedienen. Nervöse Tics, die du seit deiner Kindheit nicht mehr hattest, tauchten wieder auf. Ohne Grund strecktest du zehnmal hintereinander die Arme durch und ließt die Ellenbogenknochen knacken. Du recktest die Schultern weiter als die Gelenke es hergaben. Du atmetest fünf Minuten lang übertrieben ein und aus. Während eines Gesprächs mit einem Freund, der dich zu lange aufhielt, stelltest du dich auf die Zehenspitzen und verdrehtest die Fußknöchel. In deinem Zimmer überkam es dich, ins Leere zu boxen oder zu treten. Dein Körper versuchte zu tricksen und sich trotz des Bewegungsmangels, den du ihm auferlegtest, zu verausgaben.
    An einem Wintermorgen hast du in Shorts, T-Shirt und Turnschuhen das Haus verlassen. Du hast den Weg am Ufer eines Flusses genommen, der von der Stadt wegführte und sich durch die Felder schlängelte. Es war acht Uhr, der Tag brach an, der Nebel löste sich auf. Die Kälte drang durch deine dünnen Kleider, deine Hände röteten sich, deine Ohren waren eisig. Dein Körper wurde zerbrechlich, als befändest du dich nackt in einem Tiefkühlschrank. Du hast dich gefragt, welcher Masochismus dich dazu trieb, dir eine solche Tortur aufzuerlegen. Aber du bist schnell gelaufen, und dein Körper hat sich wieder erwärmt. Bald darauf haben Schweißtropfen deine Haut irritiert, die deinen Hals und deine Schenkel entlangperlten. Du gerietst außer Atem, die frostige Luft stach in deinen Lungen, und du spucktest Nikotin, das sich an ihren Innenseiten angelagert hatte. Aber du gabst nicht auf. Nach den ersten schmerzlichen zwanzig Minuten überkam dich Euphorie. Du vergaßt die Kälte und den Schmerz der Anstrengung. Jetzt glaubtest du, endlos weiterlaufen zu können, dein Hirn wurde von einer natürlichen Droge durchströmt, die dein eigener Körper produzierte. Du bist anderthalb Stunden lang gelaufen, bevor du erwogst, zurückzukehren. Drei Stunden später bist du durchnässt nach Hause gekommen, gleichgültig gegenüber der Kälte und der Qual. Nun fiel es dir schwer, wieder aufzuhören. Du keuchtest im Hausflur und trippeltest weiter auf der Stelle, um das plötzliche Ende des Laufes abzufedern. Es war zu warm im Haus. Wieder hinauszugehen wäre sinnlos gewesen; dein Körper, der sich gerade wieder akklimatisierte, hätte die beißende Kälte nicht mehr ertragen. Du bist von einem Zimmer ins andere gelaufen. Du kamst an einem Spiegel vorbei: Dein Gesicht war von roten und gelben Flecken übersät. Du tratst näher heran und erkanntest deine Gestalt wieder, aber sie kam dir vor wie die eines anderen. Die Müdigkeit trennte dich von dir selbst. Daraufhin hast du die Möbel und Gegenstände betrachtet, die dich umgaben. Sie hätten dir vertraut sein müssen, doch sie waren dir fremd. Du hast ein Wörterbuch genommen und es an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen, du bist auf das Wort Bruch gestoßen und hast den Eintrag gelesen. Die Worte waren abstrakte Bilder. Du erkanntest die Buchstaben, du fügtest sie zu Klangbildern zusammen, aber aus den Sätzen, die du last, ergab sich kein Sinn. Der Text war undurchdringlich wie eine monochrome Fläche. Du hast das Wörterbuch zugeschlagen und nach einem Bonbon gegriffen, das auf einem Regal herumlag. Du hast es aus dem Papier geschält und dir auf die Zunge gelegt. Ein intensives Minzaroma zog über deinen Gaumen und breitete sich in deinen Lungen aus. Seine herbe Heftigkeit brachte dich zum Husten, du setztest dich in einen Sessel, schlosst die Augen und lehntest deinen Kopf nach hinten. Das Blut in deinem Herz pulste heftig. Es war schwerfälliger als sonst. Deine Arterien und Venen schienen zu eng. Dein Fleisch rauschte. Doch es war keine Musik, sondern ein widerliches Pulsieren, und du hofftest, sein Rhythmus würde sich verlangsamen. Das Holz der Rückenlehne, auf die du deinen Kopf gestützt hattest, schnitt in deinen Hals. Du bist aufgestanden. Die Veränderung der Position hat dich schwindeln lassen. Vor deinen Augen wimmelten weiße Pünktchen. Sie verschleierten die Innenausstattung, die Möbel verschwanden. Kurz bevor du ohnmächtig werden konntest, durchstrahlte ein Kälteschauer dein Rückgrat. Die weißen Partikel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher