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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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sprangen in die Pfützen des Watts, aus denen sie mit der Hand Krabben oder kleine Fische zu fangen versuchten. Du mischtest dich nicht in ihre Spiele. Du dachtest an Dinge, die in keinem Bezug zur Umgebung standen, in der du dich befandst. Diese Landschaft war für dich kein Lebensraum, sondern ein Hintergrund, vor dem man dahintreiben konnte. Du schautest deinen Bruder und deine Schwester an: Ihre Körper sahen sich ähnlich, du dagegen glichst weder dem einen noch dem anderen. Sie waren so glücklich zusammen, dass sie sich gar nicht fragten, warum du ihnen so fern warst. Du warst ihr älterer Bruder, du hattest sie auf die Welt kommen und heranwachsen sehen. Als du in diesem Moment die Unterschiede wahrnahmst, die euch trennten, fühltest du dich deiner eigenen Familie fremd.
    Im Juli, als du siebzehn Jahre alt warst, hast du einmal mit Freunden deiner Mutter auf der Terrasse, die zum Garten führte, zu Abend gegessen. Der Tisch war vor den weitgeöffneten Türen des großen Wohnzimmers auf den alten Steinplatten gedeckt, die die Schwelle zum Gemüsegarten markierten. Unter den sechs Gästen gab es einen etwa fünfzigjährigen Psychoanalytiker. Du hattest das Servieren der Gerichte übernommen, die deine Mutter zubereitet hatte. Die Küche lag weit entfernt, von ihr aus musste man durch die frühere Küche, den Eingangsbereich, einen Flur entlang und durch den kleinen Salon hindurch ins große Wohnzimmer gehen, um endlich am gedeckten Tisch und dem gewählten Platz anzulangen. Ihr aßt nur selten dort, deine Mutter bevorzugte die Bequemlichkeit des Esszimmers und scheute immer die abendliche Frische. Du aber mochtest den Blick auf den Gemüsegarten. Der Weg in der Mitte teilte sich nach etwa fünfzehn Metern in drei Richtungen, und die Seitenwege gaben ihm das Aussehen eines Nahrung spendenden Labyrinths. Du hattest vorsorglich Kerzen auf den Tisch gestellt. Als es dunkel wurde, zündetest du sie an, und sie warfen ein sanftes Licht auf die Gesichter der eingeladenen Gäste. Die Unterhaltung war entspannt, du genosst das einfache Glück eines angenehmen Essens in Gesellschaft intelligenter Erwachsener. Du nahmst am Gespräch teil, und man ermutigte dich in deinen Überlegungen, die man als sehr reif für dein Alter bewertete. Als du von jemandem erzähltest, der sich immerzu entschuldigte, um sich von begangenen Fehlern freizusprechen, warf der Psychoanalytiker den Satz in die Runde: »Wer sich entschuldigt, beschuldigt sich.« Als es Zeit fürs Dessert war, gingst du in die Küche, um die Erdbeercharlotte zu holen, für deren Zubereitung du mehrere Stunden gebraucht hattest. Du serviertest einem Gast nach dem anderen und am Ende dir selbst. Du dachtest darüber nach, was der Psychoanalytiker gesagt hatte, und ließt dir Zeit, bevor du von der Nachspeise kostetest. Die Gäste aßen sie langsam, in kleinen Portionen und ohne Kommentar. Niemand machte dir Komplimente, wie du es dir hättest erwarten können. Beim ersten Löffel begriffst du den Grund. Der Kuchen war versalzen. »Wie konnte ich nur so blöd sein und Zucker und Salz verwechseln!«, stießt du aus. Der Psychoanalytiker erwiderte: »Wer sich beschuldigt, entschuldigt sich.«
    Du hast dich vor der Langeweile in Einsamkeit genauso gefürchtet wie davor, sich zu mehreren zu langweilen. Am meisten allerdings hast du die Langeweile zu zweit, unter vier Augen, verabscheut. Du sahst keinen Reiz in diesem Zustand des Wartens, in dem nichts auf dem Spiel steht. Du warst der Auffassung, dass einzig Handlung und Gedanke dein Leben aufrechterhielten und die Langeweile es genau an diesen vermissen ließ. Du hast den Wert der Passivität unterschätzt, die nicht die Kunst des Gefallens ist, sondern die, sich am richtigen Ort zu befinden. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein verlangte, auch das Einerlei der falschen Momente an grauen Orten in Kauf zu nehmen. Deine Ungeduld hat dich um diese Kunst gebracht, zu reüssieren, während man sich langweilt.
    Es war acht Uhr, als du mit deiner Frau im Garten von Christophe ankamst, zu einem Grillabend mit Freunden, die du aus der Schule kanntest. Nach der Schulzeit warst du nur mit ihm in Kontakt geblieben. Mit all den anderen, die an diesem Abend zusammenfanden, verkehrtest du nicht mehr, doch als du am Vorabend an sie dachtest, hatte dich die Vorstellung von all den Erinnerungen, die sie in dir wachrufen würden, begeistert. Du glaubtest, das Wiedersehen würde die Vergangenheit und die Zukunft in der Gegenwart
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