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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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sich ein Glas Weißwein zu holen. Ihr Verhalten hatte dich verwirrt, und du hülltest dich in Schweigen. Der Mann redete weiter auf dich ein, bis er sich angesichts deiner Reaktionslosigkeit verabschiedete und auf jemand anderen zusteuerte. Du gingst zum Buffet zurück und batst den Kellner um ein weiteres Glas. Als du es in der Hand hieltst und dir einen Weg durch die Aktivisten bahntest, bist du auf die Frau gestoßen. Sie bat dich, ihr zu folgen, um etwas abseits mit dir zu sprechen. Sie war den Tränen nahe, ihre Lippen zitterten. Sie hatte die Schuhe wiedererkannt, die du trugst. Es waren die Schuhe, die sie ihrem Neffen geschenkt und die seine Mutter zum Verkauf angeboten hatte, nachdem dieser sich umgebracht hatte.
    Du hast keine Kinder gehabt. Deine Frau hatte dich gefragt, ob du welche wolltest. Doch du fühltest dich nicht reif genug und wusstest nicht, ob du es jemals sein würdest. Kinder in die Welt zu setzen erschien dir ein so bedeutsamer und geheimnisvoller Akt, dass du dir nicht zutrautest, es mit Bedacht tun zu können. Du musstest zugeben, dass die Fähigkeit, Leben weiterzugeben, dich überforderte. Du glaubtest nicht, dass deine Eltern bei deiner Zeugung überlegter waren als du es heute warst. Die Ahnung von ihrem Egoismus und der Leichtfertigkeit ihrer Entscheidung verunsicherte dich. Du vermutetest, nicht als der gewollt gewesen zu sein, der du warst, sondern als jener, der du in ihrer Vorstellung warst. Du fühltest dich wie ein Hochstapler, denn du wusstest, selbst wenn du sie nicht enttäuscht hattest, hast du doch niemals dem Bild entsprochen, das sie sich in ihren Träumen von dir gemacht hatten. Doch du hast diese Träume nicht einmal gekannt, denn du hattest deine Eltern nie gebeten, sie dir zu erzählen. Warum solltest du ein Kind haben wollen? Um dein Leben zu verlängern? Aus Neugier, wem dein Nachkomme gleichen würde? Manchmal hast du gedacht, das Leben, das du führtest, sei es nicht wert, verlängert zu werden. Andererseits wäre dein Kind nicht du. Es wäre es selbst. Nichts garantierte, dass du deine Traurigkeit an es weitergeben würdest. Wäre es durch seinen Widerspruchsgeist nicht sogar vorbestimmt, glücklich zu sein? Dennoch, statt deiner Frau zu antworten, bist du der Frage ausgewichen. Da sie sich Begeisterung deinerseits erwartet hatte, diese aber ausblieb, hat sie dein Schweigen als Ablehnung gedeutet. Du bist ohne Nachkommenschaft gestorben.
    Ich leide nicht, wenn ich an dich zurückdenke. Du fehlst mir nicht. Du bist in meiner Erinnerung stärker anwesend als während unseres gemeinsamen Lebens. Wenn du noch leben würdest, wärst du mir vielleicht fremd geworden. Tot bist du genauso lebendig wie lebend.
    Du wolltest lieber am Tag sterben als in der Nacht und eher am Nachmittag als am Morgen.
    Du hast deinen Nächsten keinen Brief hinterlassen, um deinen Tod zu erklären. Wusstest du überhaupt, warum du sterben wolltest? Wenn ja, warum hast du es nicht aufgeschrieben? Aus Lebensmüdigkeit und Verachtung vor den Spuren, die dich überleben würden, oder weil dir die Gründe, die dich ins Verschwinden trieben, unbedeutend erschienen? Vielleicht wolltest du auch das Geheimnis um deinen Tod bewahren und hast geglaubt, dass nichts erklärt werden müsse. Gibt es gute Gründe dafür, sich umzubringen? Die Menschen, die dich überleben, haben sich all das gefragt; sie werden keine Antworten auf ihre Fragen erhalten.
    Als deine Mutter von deinem Tod erfuhr, hat sie um dich geweint. Bis zu deinem Begräbnis hat sie jeden Tag um dich geweint. Sie hat dich allein beweint, in den Armen ihres Mannes, in denen deines Bruders und deiner Schwester, in denen ihrer Mutter und denen deiner Frau. Sie hat während der Zeremonie um dich geweint, als sie deinem Sarg zum Friedhof folgte und während der Beisetzung. Als die zahlreichen Freunde zu ihr kamen, um ihr Beileid auszusprechen, hat sie um dich geweint. Bei jeder Hand, die sie drückte, bei jedem Kuss, den sie empfing, hat sie Bruchstücke deiner Vergangenheit wiedergesehen aus jenen Tagen, da sie dich glücklich gewähnt hatte. Im Schatten deines Todes gab ihr die Vorstellung, was du mit diesen Menschen noch hättest erleben können, das Gefühl eines ungeheuren Verlustes: Durch deinen Selbstmord hast du deine Vergangenheit verdüstert und deine Zukunft eingerissen. Sie hat auch in den nachfolgenden Tagen um dich geweint, und sie weint noch immer um dich, wenn sie einsam an dich denkt. Auch Jahre später noch treibt vielen, so wie
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