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Spuren des Todes (German Edition)

Spuren des Todes (German Edition)

Titel: Spuren des Todes (German Edition)
Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
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I. Mein erster Tatort
    Ich arbeitete noch nicht lange am Institut für Rechtsmedizin, keinen Monat. Es war an einem Donnerstag, kurz vor Mitternacht. Ich lag zu Hause im Bett und musste gerade eingeschlafen sein, als mich der Klingelton meines Handys aufschreckte. Dr. Jan Sperhake, ein Kollege, der schon einige Jahre Rechtsmediziner war und in dieser Nacht Bereitschaftsdienst hatte, rief an.
    »Ich weiß, es ist spät, aber wenn du mitkommen willst …?«
    Sofort war ich hellwach.
    Ich wusste, dass es an einem echten Tatort nicht so zugeht, wie es in den meisten Krimis dargestellt wird. Das eine war Realität, das andere Fiktion – wie oft hatte ich mir das während des Studiums anhören dürfen! Trotzdem hatte ich, seit ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut beschäftigt war, den Tag, an dem ich das erste Mal einen Tatort sehen würde, insgeheim regelrecht herbeigesehnt. Den Ort eines Verbrechens stellte ich mir spannend vor.
    »Klar, gerne …«, antwortete ich schnell, darum bemüht, möglichst munter zu klingen. Und einen Wimpernschlag später hatte ich mich bereits unter meiner Decke hervorgeschwungen und stand neben dem Bett.
    »Gut, dann hole ich dich ab«, sagte er. »Bin spätestens in zwanzig Minuten da.«
    Genau genommen war es zwar der erste Tatort, zu dem ich mich aufmachte, aber nicht »meiner«. Wenn ich Dienst gehabt hätte und von der Polizei dorthin gerufen worden wäre – so fuhr ich lediglich als Begleitung mit, ohne selbst eine Aufgabe zu haben. Aber das war fürs erste Mal vielleicht sogar die bessere Variante.
    Und noch einen Punkt sollte ich korrekterweise relativieren: Ob der Kollege und ich eine knappe halbe Stunde später tatsächlich zu einem Tatort unterwegs waren, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht mit letzter Sicherheit wissen. Es hätte auch nur der Platz sein können, an dem der Täter sein Opfer abgelegt, nicht aber getötet hatte. Es kommt häufig genug vor, dass Tatort und Fundort nicht identisch sind; was die Aufklärung eines Falls für gewöhnlich nicht einfacher macht. Die Ermittlungen bei einem Kapitalverbrechen nicht dort beginnen zu können, wo die Tat geschah – und vermutlich auch die meisten Spuren zu finden wären –, kann man sich ungefähr so vorstellen, als würde man versuchen, ein Buch zu lesen, von dem die ersten fünfzig Seiten fehlen. Da kommt man auch schlecht in die Handlung rein – falls es einem überhaupt gelingt.
     
    Wir verließen Hamburg, fuhren nach Schleswig-Holstein. Unser Ziel war ein Dorf, von dem ich bis zu dieser Nacht nicht einmal wusste, dass es überhaupt existierte. Ich glaube nicht, dass man es mir anmerkte, aber mir war ganz schön mulmig zumute. Ich hatte schon eine stattliche Zahl an Leichen gesehen, darunter verweste und auch schlimm zugerichtete. Aber die lagen dann immer auf einem Sektionstisch, in steriler Umgebung, herausgerissen aus dem Kontext der Tat. Und das, nahm ich an, sei etwas völlig anderes. Man hatte zwar trotzdem die Leiche eines Menschen vor sich, aber irgendwie depersonifiziert, reduziert auf den Körper, den es zu obduzieren galt. Das machte es auf eine bestimmte Weise abstrakt und half einem, die andere Seite auszublenden, das Emotionale, das Schicksal, das sich hinter dem Todesfall verbarg.
    Diesen Spagat, eins vom anderen zu trennen, sollte man in unserem Beruf unbedingt hinbekommen, zum eigenen Schutz. Ich wüsste nicht, wie man es sonst auf Dauer ertragen könnte. Vielleicht hatte ich Glück gehabt, bei mir funktionierte es von Anfang an, ohne dass ich mir irgendwelche Psychotricks antrainieren musste. Zumindest so lange, bis die Sache mit Chris passierte. Aber das lag damals noch weit in der Zukunft.
     
    Das Haus, das wir in dem Dorf ansteuerten, schien das letzte zu sein in einer Straße, die jetzt verlassen dalag und mit einer Wendeschleife endete, direkt vor einem Waldstück. Die Bäume dahinter standen so dicht, dass sie wie eine dunkle Mauer wirkten, die in die Höhe ragte. Weit und breit keine Straßenlaterne.
    Es hatte zu regnen begonnen. Der Wind peitschte dicke Tropfen gegen die Frontscheibe. Ich spürte, wie mein Herz pochte. Eine Mischung aus Aufregung und Anspannung. Was erwartete mich in dem Haus? Die Ungewissheit setzte mir zu, obwohl ich mir das am liebsten nicht eingestanden hätte. Ich war noch nie wegen einer Leiche aus den Latschen gekippt, und einige hatten wirklich keinen schönen Anblick geboten. Warum machte ich mir Sorgen, dass es diesmal anders sein
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