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Selbstbeherrschung umständehalber abzugeben

Selbstbeherrschung umständehalber abzugeben

Titel: Selbstbeherrschung umständehalber abzugeben
Autoren: Torsten Sträter
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Verstehen ein, und dann ein rasender Veitstanz, bei dem mein Bruder mit der Pranke im Mund durch den Raum berserkert.
    Die Frau ist alarmiert. Brandsalbe ist nicht im Haus, aber sekundenschnell besinnt sie sich auf uralte Hausrezepte. Sie rennt in die Küche, kehrt zurück und weist meinen Bruder an, die Hand herzuzeigen.
    Der Anblick des rohen, leicht dampfenden Klumpens ist nichts für schwache Nerven.
    Â»Gleich wird es besser«, sagt die Frau und beschmiert die Wunde mit etwa 50 Gramm Margarine.
    Die Schmerzen potenzieren sich ungut, mein Bruder hüpft nun, tritt gegen Stühle, erste Jodellaute sind zu hören. Das alte Hausrezept war nicht richtig. Dann geht der Frau ein Licht auf! Sie eilt erneut in den Nebenraum, kehrt zurück und kippt ein gutes Pfund Mehl auf die Wunde.
    Mein Bruder lacht, bevor er ohnmächtig wird.
    Der Notarzt meint später, fließendes Wasser sei eine brauchbare Alternative dazu, offene Wunden zu panieren, aber es sei ja auch schön, wenn es trotz perverser Höllenschmerzen im ganzen Haus lecker nach Schnitzel rieche.
    DIE ZWEITE PRÜFUNG
    2004. Alassio (Italien).
    Trotz der Kinder gönnt sich mein Bruder mit seiner Frau ein langes Wochenende zu zweit. Die Frau war vor vielen Jahren in einem wunderschönen Hotel auf der Spitze eines Berges im italienischen Alassio, nicht weit von Genua. Vor allem den GOLDENEN BAUM, von dem noch die Rede sein wird, hat sie nie vergessen, und da Nostalgie eine starke Macht ist, fährt mein Bruder zweiundzwanzig Jahre später mit seiner Frau dorthin.
    Auf dem Berg angekommen stellt man hingerissen fest: Alles noch da.
    Auch der erstaunliche Goldene Baum: Eine Tanne, viele Meter hoch, und wie damals trotz des sommerlichen Wetters goldbraun schillernd mit rostfarbenen Akzenten, mit einer Art schlichtem Lametta behängt, ein Ganzjahres-Christbaum. Die frische Landluft, das verwitterte Gebäude und der etwas kryptische Brauch, einen geschmückten Nadelbaum bei sengender Hitze ganzjährig zu halten, faszinieren die beiden.
    Beim Frühstück stellen sie fest, dass Konfitüre in diesem Landstrich unbekannt ist und man hier ganz auf zentimeterdicke Scheiben Knochenschinken setzt. Auch finden sich keine Panini genannten Brötchen im Angebot, wohl aber ein ebenfalls zentimeterdick geschnittenes holzfarbenes Brot, das zudem nach Holz schmeckt und wie Holz verarbeitet werden kann.
    Sie gehen spazieren und fotografieren viel. Mein Bruder hat sich eine Digitalkamera gekauft, teuer, aber die Ergebnisse sprechen für sich.
    Sein Lieblingsmotiv ist der Goldene Baum von Alassio: Vogelperspektive, antike Filter, Totalen … er fertigt fast hundert Bilder dieser örtlichen Festtagspracht.
    Da der Mensch ein Darmtier ist, muss er diesen dann und wann entleeren. Die Zimmer haben bei aller Kühle einen Makel: Es gibt nur eine Toilette, eine halbe Etage treppab. Dies ist dem Baujahr geschuldet.
    Die rustikale Ernährung der letzten Tage führt dazu, dass mein Bruder erstmals die Kammer aufsucht, um ein großes Geschäft zu verrichten. Der kleine Raum wirkt spartanisch. Er lässt sich nieder, arbeitet sich ab, säubert gewissenhaft und möchte dann spülen. Aber eine passende Vorrichtung ist nicht zu finden. Mein Bruder beginnt die Wände abzusuchen, entdeckt schließlich einen Spalt bei einer massiven, DIN-A4-großen Messingplatte an der Wand unter dem Fenster. Mit einiger Kraftanstrengung drückt er die Platte nach unten. Dahinter verbirgt sich eine eiserne Querstange von der Größe, wie sie auch bei den Schubhebeln von Linienflugzeugen Verwendung findet.
    Er braucht viel Kraft, den Hebel niederzudrücken. Mit lautem Getöse klappt der Boden der Toilettenschüssel weg, und dann setzt in den Wänden des Hotels dröhnender Lärm ein. Dieses Klo arbeitet mit den Prinzipien der Fallkurve, wird meinem Bruder klar. Er blickt aus dem Fenster, dritte Etage, lehnt sich vor. Er sieht nach unten. Ein Moment der Stille. Dann, und das muss hier in aller Deutlichkeit geschildert werden, sieht er zehn Meter unter sich, wie mit einem rasanten SCHUUUUUUMMMP seine Kacke aus der Wand geschossen kommt und mit hohem Tempo in den Baum klatscht. Den Goldenen Baum. Den Goldbraunen. So gesehen nur den Braunen. Ein Schwung Toilettenpapier flattert hinterher, segelt durch die Luft, wird langsamer und senkt sich wie Lametta über die Äste.
    Man checkt verfrüht aus. Auf dem Weg zum Auto
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