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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug
Autoren: Schlink
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mein Freund. Ein stiller Mensch, lebt von seinem kleinen Vermögen, ist Schachgroßmeister und kam 1965 von einem Turnier in Dubrovnik völlig verwirrt zurück. Philipp und ich haben ihm Haushälterinnen besorgt, die es aber nicht bei ihm aushielten. So kam er in die Anstalt. Die Patienten waren in großen Sälen zusammengepfercht, schliefen in doppelstöckigen Betten, hatten nicht einmal eigene Schränke oder Fächer und brauchten auch keine, weil sie alle persönliche Habe, selbst Armbanduhr und Ehering, abgeben mußten. Das Schlimmste war für mich der süßliche Geruch nach Essen, Putz- und Desinfektionsmitteln, Urin, Schweiß und Angst. Wie Eberhard unter diesen Bedingungen wieder gesund geworden ist, bleibt mir ein Rätsel. Aber er hat es geschafft und spielt sogar wieder – gegen den Rat des Arztes, der Stefan Zweigs Schachnovelle gelesen hat. Dann und wann spielen wir. Er siegt immer. Aus Freundschaft läßt er mich manchmal glauben, es sei ein hartes Stück Arbeit für ihn.

6
Was denken Sie denn?
    Das Psychiatrische Landeskrankenhaus liegt in den Ausläufern der Berge. Ich hatte keine Eile und fuhr über die Dörfer. Das schöne Wetter hielt an, der Morgen war hell, und das junge Grün und die Farben der Blüten explodierten. Ich machte das Schiebedach auf und legte die Kassette mit der Zauberflöte ein. Es war eine Lust zu leben.
    Das Zentrum der Krankenhausanlage ist der alte Bau. Er wurde in Form eines großen U gegen Ende des letzten Jahrhunderts als Kaserne eines badischen Velozipedistenregiments errichtet. Im Ersten Weltkrieg diente er als Lazarett, nach Kriegsende als Landesarmenhaus und seit den späten zwanziger Jahren als Heil- und Pflegeanstalt. Der Zweite Weltkrieg hat aus dem großen U ein großes L gemacht. Die Mauern, die den alten Bau zum länglichen Geviert geschlossen hatten, sind verschwunden, der Hof weitet sich in das hügelige Gelände, auf dem inzwischen viele neue Funktionsbauten entstanden sind. Ich parkte, schloß das Schiebedach und machte die Musik aus. Der säulengeflankte Eingang war zusammen mit dem ganzen Bau eingerüstet. Um die Fenster leuchtete der rohe Backstein. Man hatte augenscheinlich gerade Thermoglas eingesetzt. Jetzt waren die Maler dabei, alles in zartem Gelb neu zu streichen. Einer pfiff die Arie der Königin der Nacht weiter, während ich über den Kies zum Portal ging.
    Der Pförtner wies mir den Weg in die Verwaltung, erster Stock links. Breite, ausgetretene Sandsteinstufen führten nach oben. Neben der Tür zu Zimmer 107 stand: Verwaltung / Aufnahme. Ich klopfte und wurde hineingerufen.
    Der Name Leonore Salger sagte der Sachbearbeiterin nichts. Sie wandte sich wieder den Krankenblättern zu. An einigen hefteten Paßbilder, und das brachte mich auf den Gedanken, ihr Leos Photo zu zeigen. Sie nahm es, betrachtete es gründlich, bat mich, einen Moment zu warten, schloß ihren Schrank und ging hinaus. Ich schaute durch das Fenster in einen Park. Die Magnolienbäume und Forsythiensträucher blühten, der Rasen wurde gerade gemäht. Auf den Wegen schlenderten Patienten in Alltagskleidung, andere saßen auf den weißgestrichenen Bänken. Wie hatte sich alles verändert! Als ich damals Eberhard besuchte, war unter den Bäumen die Erde einfach festgetreten. Auch damals schon konnten die Patienten ins Freie, aber in grauer Anstaltskleidung, und es war ein Hofgang wie im Gefängnis, zu fester Stunde, für zwanzig Minuten, hintereinander im Kreis.
    Die Sachbearbeiterin kam nicht allein zurück.
    »Dr. Wendt«, stellte er sich vor. »Wer sind Sie, und in welcher Beziehung stehen Sie zu ihr?« Er hielt Leos Photo in der Hand und sah mich unfreundlich an.
    Ich überreichte meine Karte und erzählte von meiner Suche.
    »Es tut mir leid, Herr Selb, aber wir geben Auskünfte über unsere Patienten nur an autorisierte Personen weiter.«
    »Also ist sie …«
    »Ich möchte dazu nichts weiter sagen. In wessen Auftrag, sagten Sie, arbeiten Sie?«
    Ich hatte den Brief von Salger einstecken und holte ihn hervor. Wendt las ihn mit gerunzelter Stirn. Er schaute nicht auf, obwohl er mit Lesen längst fertig sein mußte. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Kommen Sie bitte mit rüber.«
    Ein paar Türen weiter bat er mich in ein Sprechzimmer mit Sitzgruppe. Der Blick ging wieder in den Park. Hier waren die Handwerker noch nicht fertig. Das Fenster, aus dem die alten Rahmen und Scheiben schon herausgebrochen waren, war provisorisch mit durchsichtiger Plastikfolie geschlossen. Auf
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