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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug
Autoren: Schlink
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seiner lebhaften Wohngemeinschaft nicht ruhig schreiben konnte. »Außerdem hat sie so die Wohnung noch, wenn sie zurückkommt.«
    »Wo ist sie?«
    »Ich weiß nicht. Sie wird’s schon selbst wissen.«
    »Hat niemand nach ihr gefragt?«
    Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, strich das glatte Haar noch glatter und zögerte einen Moment. »Sie meinen sicher wegen Arbeit, ob jemand wie Sie … Nein, da war niemand da.«
    »Was glauben Sie – schafft Frau Salger das: eine kleine Konferenz über Technisches, zwölf Teilnehmer, deutsch-englisch und englisch-deutsch? Ist sie fit?«
    Aber er ließ sich nicht in ein Gespräch über Leo verwickeln. »Da sehen Sie, daß die ganzen Sätze nichts nützen. Ich habe Ihnen in ganzen Sätzen gesagt, daß sie nicht da ist, und Sie fragen, ob sie für Ihre kleine Konferenz fit ist. Sie ist weg … auf und davon … husch, husch …« Er flatterte mit den Armen. »Alles klar? Ich will ihr ausrichten, daß Sie da waren, wenn sich’s ergibt.«
    Ich ließ ihm meine Karte da, nicht die vom Büro, sondern die von der Wohnung. Ich erfuhr, daß er eine philosophische Doktorarbeit schrieb, über katastrophisches Denken. Und daß er Leo in einem Studentenwohnheim kennengelernt hatte. Leo hatte ihm Französischunterricht gegeben. Als ich schon auf der Treppe war, warnte er mich nochmals vor den ganzen Sätzen: »Sie müssen nicht meinen, Sie seien zu alt, das zu begreifen.«

4
Wie süß, der alte Onkel
    Zurück im Büro rief ich bei Salger an. Der Anrufbeantworter notierte meine Bitte um Rückruf. Ich wollte wissen, in welchem Studentenwohnheim Leo gewohnt hatte. Dort nach ihren Freunden und nach ihrem Verbleib forschen – es war keine heiße Spur, aber ich hatte keine große Wahl.
    Der Rückruf kam am Abend, als ich auf dem Heimweg vom Kleinen Rosengarten noch mal im Büro vorbeischaute. Ich war zu früh dort gewesen, das Lokal war halbleer und ungemütlich, Giovanni, der mich sonst kellnerisch betreut, machte Urlaub in Italien, und die Gorgonzolaspaghetti waren zu schwer. Ich hätte bei meiner Freundin Brigitte besser gegessen. Aber am letzten Wochenende hatte sie sich gefreut, daß ich bei ihr vielleicht doch noch lerne, mich verwöhnen zu lassen: »Wirst du mein lieber, alter Kater?« Ich will kein alter Kater werden.
    Salger war diesmal von ausgesuchter Höflichkeit. Er sei sehr dankbar, daß ich mich um Leo kümmere. Seine Frau sei sehr dankbar, daß ich mich um Leo kümmere. Ob es ausreiche, wenn mir nächste Woche eine weitere Abschlagszahlung zugehe. Er bitte mich um unverzügliche Benachrichtigung, wenn ich Leo gefunden habe. Seine Frau bitte mich …
    »Herr Salger, welche Anschrift hatte Leo vor der Häusserstraße?«
    »Wie meinen Sie?«
    »Wo hat Leo gewohnt, bevor sie in die Häusserstraße gezogen ist?«
    »Ich fürchte, daß ich Ihnen das auf Anhieb nicht sagen kann.«
    »Bitte schauen Sie nach oder fragen Sie Ihre Frau – ich brauche die alte Adresse. Es war ein Studentenwohnheim.«
    »Richtig, das Studentenwohnheim.« Salger verstummte. »Liebigstraße? Eichendorffweg? Im Schnepfengewann? Ich komme jetzt nicht darauf, Herr Selb, mir gehen die verschiedensten Straßennamen durch den Kopf. Ich will mit meiner Frau reden und ins alte Adreßbuch schauen, falls wir es dabeihaben. Sie hören von mir. Beziehungsweise wenn Sie morgen früh nichts auf Ihrem Anrufbeantworter haben, dann können wir Ihnen von hier aus nicht weiterhelfen. Wär’s das? Ich darf Ihnen eine gute Nacht wünschen.«
    Salger wurde mir nicht sympathischer. Leo lehnte am Löwen und sah mich an, hübsch, wach, mit der Entschlossenheit im Blick, die ich zu verstehen glaubte, und der Frage oder dem Trotz, die ich nicht deuten konnte. So eine Tochter haben und ihre Adresse nicht kennen – schämen Sie sich, Herr Salger.
    Ich weiß nicht, warum Klara und ich keine Kinder hatten. Sie hat mir nie erzählt, daß sie deswegen beim Frauenarzt gewesen sei, und von mir nie verlangt, zum Männerarzt zu gehen. Wir waren nicht sehr glücklich miteinander, aber zwischen Eheunglück und Kinderlosigkeit, Eheglück und Kinderreichtum bestehen ohnehin keine eindeutigen Zusammenhänge. Ich wäre gerne Witwer mit Tochter gewesen, aber das ist ein ungehöriger Wunsch, und ich gestehe ihn mir erst ein, seit ich alt bin und keine Geheimnisse mehr vor mir habe.
    Ich telephonierte einen Vormittag lang, bis ich Leos Studentenwohnheim fand. Am Klausenpfad, unweit von Freibad und Tiergarten. Sie hatte in Zimmer 408 gewohnt, und
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