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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug
Autoren: Schlink
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angekränkelt gewesen. Ein zupackendes Mädchen, eine tüchtige Dolmetscherin mit dem flotten Mundwerk, das man in diesem Beruf braucht, und als Tutorin bei den Erstsemestern beliebt. Doch, doch, wenn Sie sie finden, dann nehmen Sie sie. Sie können sie von mir grüßen.«
    Wir standen auf, und er brachte mich zur Tür. Im Vorzimmer bat ich die Sekretärin um Frau Salgers Adresse. Sie schrieb sie mir auf einen Zettel: Häusserstraße 5, 6900 Heidelberg.

3
Katastrophisches Denken
    1942 kam ich als junger Staatsanwalt nach Heidelberg und nahm mit meiner Frau Klara eine Wohnung in der Bahnhofstraße. Das war damals keine gute Adresse, aber ich mochte den Blick auf den Bahnhof, die ein- und ausfahrenden Züge, den aufschäumenden Dampf der Lokomotiven, die Pfiffe und das Rumpeln der nächtlich rangierenden Waggons. Heute führt die Bahnhofstraße nicht mehr am Bahnhof entlang, sondern an neuen Behörden- und Gerichtsgebäuden von glatter, grauer Funktionalität. Wenn das Recht wie die Architektur ist, in der es gesprochen wird, steht es nicht gut um das Recht in Heidelberg. Wenn es dagegen wie die Brötchen, das Brot und der Kuchen ist, die das Justizpersonal um die Ecke kaufen kann, muß einem um das Recht nicht bange sein. Von der Bahnhofstraße geht die Häusserstraße ab, und gleich hinter der Ecke hat sich aus der kleinen Bäckerei, in der Klara und ich vor mehr als vierzig Jahren Kommißbrot und Wasserwecken gekauft haben, eine einladende Backwarenboutique entwickelt.
    Daneben, vor dem Klingelbrett in der Häusserstraße 5, setzte ich meine Lesebrille auf. Beim obersten Knopf stand ganz selbstverständlich ihr Name. Ich klingelte, die Tür schnappte auf, und ich stieg das düstere, nach Alter riechende Treppenhaus hoch. Mit meinen neunundsechzig bin ich nicht mehr so schnell. Im zweiten Stock mußte ich verschnaufen.
    »Hallo?« Von oben rief’s ungeduldig, eine hohe Männer- oder tiefe Frauenstimme.
    »Ich komme.«
    Die letzte Treppe führte ins Dachgeschoß. Ein junger Mann stand in der Tür, durch die ich in eine Mansardenwohnung mit Gauben und schiefen Wänden sehen konnte. Er mochte Ende zwanzig sein, hatte sein schwarzes Haar glatt nach hinten gekämmt, trug zu schwarzen Cordhosen einen schwarzen Pullover und musterte mich ruhig.
    »Ich suche Frau Leonore Salger. Ist sie da?«
    »Nein.«
    »Wann kommt sie wieder?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Das ist doch ihre Wohnung, oder?«
    »Ja.«
    Ich komme nicht mehr mit, was sich junge Leute heute alles einfallen lassen. Neue Schweigsamkeit? Neue Innerlichkeit? Kommunikative Anorexie? Ich versuchte es noch mal: »Mein Name ist Selb. Ich habe ein kleines Dolmetsch- und Übersetzungsbüro drüben in Mannheim, und Frau Salger wurde mir genannt als jemand, der kurzfristig einspringt. Jetzt könnte ich sie dringend brauchen. Können Sie mir bitte helfen, Frau Salger zu erreichen? Und darf ich mich in der Wohnung auf einen Stuhl setzen? Ich bin außer Atem, mir zittern die Beine, und mein Genick wird starr, weil ich zu Ihnen aufschauen muß.« Am Treppenende war kein Absatz, der junge Mann stand auf der obersten Stufe und ich fünf Stufen tiefer.
    »Bitte.« Er gab die Tür frei und winkte mich in ein Zimmer mit Bücherregalen, einer Tischplatte auf zwei Holzböcken und einem Stuhl. Ich setzte mich. Er lehnte sich ans Fenstersims. Die Tischplatte war mit Büchern und Papieren bedeckt, ich las französische Namen, die mir nichts sagten. Ich wartete, aber er machte keine Anstalten zu reden.
    »Sind Sie Franzose?«
    »Nein.«
    »Wir haben das als Kinder gespielt. Einer denkt an etwas, die anderen müssen durch Fragen herauskriegen, an was, und der eine darf nur mit Ja oder Nein antworten. Gewonnen hat, wer’s als erster errät. Zu mehreren kann das lustig sein, zu zweit macht es keinen Spaß. Ob Sie wohl in ganzen Sätzen …«
    Er gab sich einen Ruck, als habe er geträumt und sei aufgewacht. »Ganze Sätze? Ich sitze jetzt seit zwei Jahren an meiner Arbeit, und seit einem halben Jahr schreibe ich, ich schreibe ganze Sätze, und alles wird immer falscher. Sie denken vielleicht …«
    »Seit wann wohnen Sie hier?«
    Er war über meine platte Frage sichtbar enttäuscht. Aber ich erfuhr, daß er die Wohnung vor Leo bewohnt und an sie weitergegeben hatte, daß die Vermieterin einen Stock tiefer, seit Anfang Januar ohne Lebenszeichen und dann auch ohne die Miete von Leo, ihn im Februar besorgt angerufen hatte und daß er seitdem provisorisch in der Wohnung hauste, weil er in
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