Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug
Autoren: Schlink
Vom Netzwerk:
Eines mutigen Tags ging ich zum Zahnarzt. Dreisieben konnte gerettet werden, und die Prothese blieb mir erspart. Aufträge kamen in den Sommermonaten schon immer zögernd. Jetzt, wo ich älter bin, zögern sie erst recht. Ich muß mich nicht zur Ruhe setzen, ich kann die Arbeit einfach allmählich auslaufen lassen.
    Im September fand vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe der Prozeß gegen Helmut Lemke, Richard Ingo Peschkalek und Bertram Mohnhoff statt, der sogenannte Käfertaler Terroristenprozeß. Die Zeitungen waren mit allem sehr zufrieden: mit den raschen Ermittlungen der Polizei, mit dem zügigen Gerichtsverfahren und mit den geständigen Angeklagten. Lemke war souverän in Einsicht und Reue, Mohnhoff kindlich eifrig. Nur Peschkalek verhedderte sich. Er wollte mit Wendts Tod nichts zu tun gehabt, Wendt nicht in Wieblingen getroffen und die Pistole nicht besessen haben, bis die Nachricht in die Verhandlung platzte, daß die Waffe bei Reparaturarbeiten in der Böckstraße hinter einem Backstein der Brandmauer gefunden worden war, an die seine Wohnung grenzte. Als er dann seine Unfallversion präsentierte, kam sie nicht gut an, obwohl die Gerichtsmedizin tatsächlich nicht ausschließen mochte, daß Wendt nicht durch den Schuß, sondern durch den Sturz zu Tode gekommen war. Peschkalek bekam zwölf Jahre, Lemke zehn und Mohnhoff acht. Auch damit waren die Zeitungen zufrieden. Der bekannte Leitartikler der Frankfurter Allgemeinen Zeitung pries das Zeichen, das der Rechtsstaat gesetzt, die Brücken, die er reuigen Terroristen gebaut habe: golden und dornig zugleich.
    Ich war nicht nach Karlsruhe gefahren. Wie chirurgische Operationen, Gottesdienste und geschlechtliche Begegnungen gehören auch Gerichtsverhandlungen für mich zu den Ereignissen, bei denen ich entweder mitspiele oder wegbleibe. Nichts gegen Gerichtsöffentlichkeit. Aber ich würde mich als Voyeur fühlen.
    Als der Prozeß vorbei war, rief Nägelsbach an. »Es sind dies die letzten Abende des Sommers, an denen man draußen sitzen kann. Kommen Sie vorbei?«
    Wir saßen unter dem Birnbaum und redeten Nichtigkeiten. Wie und wo wir die Ferien verbracht hatten, sie in den Bergen und ich an der See, interessierte sie ebensowenig wie mich.
    »Wie geht es Leonore Salger?« fragte Frau Nägelsbach unvermittelt.
    »Ich durfte sie noch immer nicht besuchen. Aber ich habe dieser Tage mit Eberlein telephoniert, der nach dem Abschluß des Karlsruher Verfahrens rehabilitiert ist und auch seinen Posten als Direktor wieder hat. Er weiß noch nicht, wann sie entlassen werden kann. Aber er ist sicher, daß sie wieder gesund wird, ihr Studium abschließen und ein normales Leben leben wird.« Ich zögerte.
    »Trauen Sie sich, Herr Selb. Was Sie und mein Mann jetzt nicht klären, klären Sie nie mehr.«
    »Aber Reni, ich finde …«
    »Für dich gilt es genauso.«
    Er und ich sahen uns verlegen an. Natürlich hatte Frau Nägelsbach recht. Frau Nägelsbach hat immer recht. Aber wir beiden fragten uns, ob es nicht schon zu spät war.
    Ich gab mir einen Ruck. »Sie wußten, wie es um Leo stand?«
    »Sie war seltsam. Bei den Vernehmungen war sie manchmal abwesend, als höre und sehe sie uns nicht, mal kam sie vom Hölzchen aufs Stöckchen und hörte und hörte nicht auf, und dann mußten wir wieder um jeden Satz, jedes Wort von ihr kämpfen. Rawitz sagte gleich ›die spinnt‹ und daß ihr Verteidiger ein kompletter Idiot ist, wenn sie verurteilt wird. Deswegen hat er so lachen müssen, als Sie sie loskriegen wollten. Wir anderen waren nicht so sicher.« Jetzt zögerte er. Aber auch er gab sich einen Ruck. »Wie steht es mit Peschkaleks Material? Haben Sie’s, oder ist es verbrannt?«
    »Selb, der betrogene Betrüger? Das paßt doch. Lemke und Peschkalek haben Leo und deren Freunde betrogen, Polizei und Staats- oder Bundesanwaltschaft haben das Gericht betrogen, vielleicht hat das Gericht auch mitgespielt und mitbetrogen, und die betrogene Öffentlichkeit feiert ihre Betrüger. Ist eigentlich Giftgas in Viernheim, von wem und von wann auch immer?«
    Nägelsbach sah mich feindselig an. Dann sah er feindselig zu seiner Frau. »Siehst du, er will gar nichts klären, er will mich nur verletzen.« Dann sah er wieder feindselig zu mir. »Ich mag auch nicht, wenn gemauschelt und geschachert wird, und mir war beim Käfertaler Terroristenprozeß von Anfang bis Ende nicht wohl. Das war’s auch den anderen nicht. Aber wir alle haben es so gut zu machen versucht, wie es eben ging. Aber Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher