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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug
Autoren: Schlink
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über verslumte Treppen und Korridore fand ich im vierten Stock in einer Gemeinschaftsküche drei beim Tee zusammensitzen, zwei Studentinnen und einen Studenten.
    »Entschuldigen Sie, ich suche Leonore Salger.«
    »Hier wohnt keine Leonore.« Der Student saß mit dem Rücken zu mir und redete über die Schulter.
    »Ich bin Leos Onkel, komme gerade durch Heidelberg und habe dieses Studentenwohnheim als ihre Heidelberger Adresse. Können Sie …«
    »Ach, wie süß, der alte Onkel besucht die junge Nichte. Guck mal, Andrea!«
    Andrea drehte sich um, der Student drehte sich um, und die drei betrachteten mich neugierig. Mein Freund Philipp, der als Chirurg bei den Städtischen Krankenanstalten Mannheim mit famulierenden Medizinern zu tun hat, berichtet mir von der Wohlerzogenheit der Studenten der neunziger Jahre. Der Sohn meiner alten Freundin Babs wird Jurist und ist gewandt und höflich. Seine Freundin, eine adrette angehende Theologin, die ich mit »Frau« anredete, wie’s mich die Frauenbewegung gelehrt hat, wies mich sanft zurecht, sie sei »Fräulein«. Die drei vor mir mußten Soziologen sein. Ich setzte mich auf den vierten Stuhl.
    »Seit wann wohnt Leo nicht mehr hier?«
    »Ich weiß nichts von …«
    Andrea unterbrach: »Das war vor deiner Zeit. Leo ist vor einem Jahr raus, in die Weststadt, glaube ich.« Sie wandte sich mir zu: »Ich habe Leos neue Adresse nicht. Aber auf der Verwaltung müssen sie sie haben. Ich muß auch dort vorbei – wollen Sie mitkommen?«
    Sie ging vor mir die Treppe hinunter. Der schwarze Pferdeschwanz wippte, und der weite Rock schwang. Sie war ein kräftiges Mädchen, aber anmutig anzuschauen. Die Verwaltung war nicht mehr besetzt, es ging auf vier Uhr. Unschlüssig standen wir vor der verschlossenen Tür.
    »Können Sie mir mit einem neueren Bild von Leo helfen?« Ich erzählte, daß Leos Vater, mein Schwager, demnächst Geburtstag hat, das Fest auf dem Drachenfels gefeiert wird und auch die Vettern und Basen aus Dresden kommen. »Ich wollte Leo vor allem treffen, weil ich das Album mit allen Verwandten und Freunden vorbereite.«
    Sie nahm mich auf ihr Zimmer. Wir saßen auf der Couch, und aus einem Schuhkarton voller Photos kramte sie ein Studentenleben mit Fastnachts- und Examensfesten, Urlaubsreisen, einem Seminarausflug, der einen und anderen Demonstration, einem Wochenende der Arbeitsgruppe und Bildern vom Freund, der gerne auf seinem Motorrad posierte. »Hier, das war auf einer Hochzeit.« Sie gab mir Leo im Sessel, dunkelblauer Rock und lachsfarbene Bluse, Zigarette in der Rechten und die Linke nachdenklich an die Wange gelegt, das Gesicht konzentriert, als höre sie zu oder beobachte. Nichts Mädchenhaftes mehr, das war eine junge, durchsetzungsbereite, etwas angespannte Frau. »Hier kommt sie aus dem Standesamt, sie war Trauzeugin, und hier gehen wir alle zum Neckar, wir haben auf dem Schiff gefeiert.« Ich schätzte sie auf einssiebzig, sie war schlank, ohne dünn zu sein, und hielt sich gerade.
    »Wo ist das?« Leo kam aus einer Tür, Jeans und dunkler Pullover, Tasche umgehängt und Mantel über dem Arm. Sie hatte Ringe unter den Augen, das rechte zugekniffen, über dem linken die Braue gehoben. Ihr Haar war zerzaust und der Mund ein schmaler, böser Strich. Ich kannte die Tür und das Haus. Aber woher?
    »Das war nach der Demo im Juni, die Bullen hatten sie festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt.« Ich erinnerte mich an keine Demo im Juni. Aber ich erkannte jetzt, daß Leo aus der Polizeidirektion Heidelberg kam.
    »Kann ich die beiden haben?«
    »Das auch?« Andrea schüttelte den Kopf. »Sie wollen doch dem Vater eine Freude machen und Leo keinen Ärger, oder? Dann lassen Sie das böse mal und nehmen das liebe. Wie sie da sitzt, das geht in Ordnung.« Sie gab mir Leo im Sessel und packte die anderen Photos zurück in den Karton. »Wenn Sie Zeit haben, können Sie im Drugstore vorbeischauen. Da hat Leo früher jeden Abend rumgehangen, und ich hab sie im Winter noch dort getroffen.«
    Ich ließ mir den Weg zum Drugstore beschreiben und dankte ihr. Als ich das Lokal in der Kettengasse gefunden hatte, erinnerte ich mich. Da hatte einmal jemand unter meiner Beschattung seinen Kaffee getrunken und Schach gespielt. Er lebt nicht mehr.
    Ich bestellte einen Aviateur, aber der Bar fehlte es am Grapefruitsaft und am Champagner, und so trank ich den Campari alleine. Immerhin kam ich mit dem gelangweilten Burschen hinter der Bar ins Gespräch und zeigte ihm Leo im
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