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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug
Autoren: Schlink
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Bogen.
    Das war dreist. Ich schaffte nicht ganz, meinen Ärger herunterzuschlucken. »Nur Patienten oder auch Ärzte? Aber Sie haben recht, wenn die Geschichten, die man mir erzählt, Löcher haben, dann denke ich mir aus, was in die Löcher passen könnte. Die Geschichte, die mir Ihr junger Kollege erzählt hat, stimmt hinten und vorne nicht. Was hat der Direktor zum Fenstersturz einer jungen Patientin zu sagen?«
    »Ich bin kein junger Mann mehr, wäre es auch mit linkem Bein nicht. Und Sie«, er sah mich freundlich von unten bis oben an, »sind’s auch nicht. Sie waren verheiratet? Ja? Die Ehe ist auch ein solcher Organismus, in dem Bakterien und Viren arbeiten und kranke Zellen wachsen und wuchern. Schaffe, schaffe, Häusle baue – sind rechte Schwaben, die Bakterien und Viren.« Wieder das gemütliche Lachen.
    Ich dachte an meine Ehe. Klärchen ist vor dreizehn Jahren gestorben und meine Trauer um meine Ehe schon lange davor. Eberleins Bild ließ mich kalt. »Und was ist es, das im Organismus des Psychiatrischen Landeskrankenhauses schwärt?«
    Eberlein blieb stehen. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Suchen Sie mich auf, wann immer Sie Fragen haben. Ich bin ein bißchen ins Philosophieren gekommen, es steckt eben in jedem Schwaben ein kleiner Hegel. Sie sind ein Mann der Tat, des klaren Blicks und nüchternen Verstands – aber bei dem Wetter sollten Sie in Ihrem Alter auf den Kreislauf achten.«
    Er ging ohne Gruß. Ich schaute ihm nach. Sein Gang, die gespannten Schultern, der kurze Ruck des ganzen Körpers, mit dem er das linke Bein um seine Achse nach vorne schwang, das feste Aufsetzen des Stocks mit dem silbernen Knauf – da war nichts Weiches, Schlaffes. Der Mann war ein Bündel an Kraft. Wenn er mich hatte verwirren wollen, war es ihm gelungen.

8
Dawai, dawai
    Die ersten Tropfen fielen, und der Park wurde leer. Die Patienten rannten zu den Häusern. In der Luft hing das laute Zwitschern der aufgeregten Vögel. Ich fand in einem alten, halboffenen Fahrradunterstand Schutz, zwischen schräg nach oben laufenden, rostigen Schienen, in die schon lange kein Fahrrad mehr geschoben worden war. Es blitzte und donnerte, und der dichte Regen lärmte auf dem Wellblechdach. Ich hörte eine Amsel singen, streckte den Kopf raus, um nach ihr zu sehen, und zog ihn naß wieder zurück. Sie saß unter dem Regimentswappen oben an der Ecke des alten Baus. Die erste Amsel dieses Sommers. Dann sah ich durch den strömenden Regen langsam zwei Gestalten auf mich zukommen. Der Wärter im weißen Kittel redete geduldig auf den Patienten im viel zu weiten grauen Anzug ein und schob ihn sachte voran. Er hielt den Arm des anderen auf dessen Rücken, in einem Polizeigriff, der nicht weh tat, aber jederzeit gefügig machen konnte. Als sie näher kamen, verstand ich die Worte des Wärters, begütigende Sinnlosigkeiten, dazwischen immer wieder ein scharfes »dawai, dawai«. Beiden klebten die Kleider am Leib.
    Als sie neben mir unter dem Wellblech standen, ließ der Wärter den Patienten nicht los. Er nickte mir zu. »Neu hier? Bei der Verwaltung?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Die da oben schieben eine ruhige Kugel, und unsereiner macht die Drecksarbeit. Nichts gegen Sie persönlich, ich kenne Sie nicht.« Er war breit, schwer und überragte mich. Die Nase war ein derber Knollen. Der Patient zitterte und schaute in den Regen. Sein Mund formte Worte, die ich nicht verstand.
    »Ist Ihr Patient gefährlich?«
    »Weil ich ihn im Griff habe? Keine Angst. Was machen Sie da oben?«
    Es blitzte. Immer noch stürzte der Regen hinunter, dröhnte aufs Wellblech und spritzte vom Kies an die Beine. Rinnsale flossen auf den Zementboden des Fahrradschuppens, und es roch nach nassem Staub.
    »Ich bin von draußen. Ich untersuche den Unfall der Patientin am letzten Dienstag.«
    »Polizei?«
    Der Donner kam und knatterte trocken über uns weg. Ich zuckte zusammen, der Wärter mochte das für ein Nicken und mich für einen Polizisten halten.
    »Was für ein Unfall?«
    »Drüben im alten Bau, der tödliche Sturz aus dem dritten Stock.«
    Der Wärter sah mich verständnislos an. »Was reden Sie da? Ich weiß nichts von einem Sturz am letzten Dienstag. Und wenn ich nichts weiß, dann war nichts. Wer soll da gestürzt sein?«
    Ich gab ihm ein Photo von Leo.
    »Die Kleine … Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden?«
    »Dr. Wendt.«
    Er gab mir das Photo zurück. »Da will ich mal lieber nichts gesagt haben. Wenn der Dr. Wendt … wenn dem
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