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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug
Autoren: Schlink
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Tisch, Regal und Aktenbock lag feiner weißer Staub.
    »Ja, Frau Salger war Patientin bei uns. Sie kam vor etwa drei Monaten. Sie wurde von jemandem gebracht, der sie als Anhalterin … Also was genau auf und vor dieser Autofahrt passiert ist, wissen wir nicht. Der Mann sagte, er habe sie eben aufgelesen und mitgenommen.« Der Arzt stockte wieder und guckte nachdenklich. Er war noch jung, trug Cordhosen mit kariertem Hemd unter dem offenen weißen Kittel und sah sportlich aus. Sein Gesicht hatte eine gesunde Farbe, sein dichtes braunes Haar war kunstvoll zerzaust. Die Augen standen zu eng beieinander.
    Ich wartete. »Herr Dr. Wendt?«
    »Auf der Fahrt hat sie zu weinen angefangen und überhaupt nicht mehr aufgehört. Das ging über eine Stunde, der Mann hat sich am Ende nicht anders zu helfen gewußt, als sie zu uns zu bringen. Und bei uns ging es so weiter, bis sie die Valiumspritze bekam und einschlief.« Er sann wieder vor sich hin.
    »Und dann?«
    »Oh, dann habe ich mit der Therapie angefangen, was denken Sie denn?«
    »Ich meine, wo ist Leonore Salger jetzt? Warum haben Sie niemanden verständigt?«
    Wieder ließ er sich Zeit. »Wir hatten … Ich weiß doch erst von Ihnen, wie sie richtig heißt. Wenn nicht unsere Dame an der Aufnahme«, seine Hand deutete in Richtung von Zimmer 107, »zufällig ein paarmal mit ihr zu tun gehabt hätte … Meistens kriegt sie unsere Patienten gar nicht zu sehen. Und daß Sie dann auch noch mit einem Paßbild kommen müssen …« Er schüttelte den Kopf.
    »Haben Sie sich mit der Polizei in Verbindung gesetzt?«
    »Die Polizei …« Er fummelte ein zerknautschtes Päckchen Roth-Händle aus der Tasche seiner Hose und bot mir eine an. Ich rauchte lieber meine eigenen und holte die Sweet Afton hervor. Wendt schüttelte noch mal den Kopf. »Nein, von Polizei in unserem Krankenhaus halte ich nicht viel, und in diesem Fall wäre eine polizeiliche Vernehmung zunächst therapeutisch gänzlich unvertretbar gewesen. Und dann ging es ihr schon bald besser. Sie war freiwillig hier, hätte statt zu bleiben auch gehen können, und sie war volljährig.«
    »Wo ist sie jetzt?«
    Er setzte ein paarmal an. »Ich kann Ihnen … muß Ihnen … Frau Salger ist tot. Sie ist …« Er vermied meinen Blick. »Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Ein tragischer Unglücksfall. Sagen Sie bitte dem Vater, wie sehr ich Anteil nehme.«
    »Herr Dr. Wendt, ich kann doch den Vater nicht anrufen, um ihm nur zu sagen, daß seine Tochter bei einem tragischen Unglücksfall ums Leben gekommen ist.«
    »Natürlich. Sie sehen«, er zeigte zum Fenster, »daß bei uns gerade neue Scheiben reinkommen. Letzten Dienstag hat sie … Wir haben im dritten Stockwerk große, vom Fußboden bis fast unter die Decke reichende Fenster im Flur, und sie ist durch die Plastikfolie nach unten in den Hof gestürzt. Sie war auf der Stelle tot.«
    »Und wenn ich jetzt nicht gekommen wäre, hätten Sie sie beerdigen lassen, ohne daß die Eltern auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren? Was für eine verrückte Geschichte erzählen Sie mir denn da, Herr Dr. Wendt!«
    »Ich bitte Sie, selbstverständlich wurden die Eltern benachrichtigt. Ich weiß nicht, was unsere Aufnahme im einzelnen unternommen hat, aber benachrichtigt hat man die Eltern ganz gewiß.«
    »Wie hat man das gemacht, wenn Sie doch erst von mir den richtigen Namen erfahren haben?«
    Er zuckte nur mit den Schultern.
    »Und die Beerdigung?«
    Er sah auf seine Hände, als könnten sie ihm sagen, wo Leo begraben werden soll. »Damit wird wohl auf die Entscheidung der Eltern gewartet.« Er stand auf. »Ich muß jetzt auf die Station. Sie können sich nicht vorstellen, was bei uns los ist. Der Sturz, die Sirenen des Krankenwagens, seitdem gibt’s große Unruhe. Erlauben Sie, daß ich Sie hinausbegleite.«
    »Nein«, sagte er, als ich mich vor der Tür zu Zimmer 107 von ihm verabschieden wollte, »hier ist jetzt geschlossen.« Er zog mich weiter. »Ich möchte Ihnen doch noch sagen, daß ich über Ihr Kommen sehr froh bin. Bitte reden Sie bald mit dem Vater. Ihre Überlegung vorhin war natürlich richtig, vielleicht hat die Aufnahme nicht geschafft, die Eltern zu benachrichtigen.« Wir standen unter dem Portal. »Auf Wiedersehen, Herr Selb.«

7
In jedem Schwaben ein kleiner Hegel
    Ich fuhr nicht weit. Beim Baggersee vor Sankt Ilgen hielt ich an, stieg aus und trat ans Ufer. Ich versuchte, Kieselsteine übers Wasser hüpfen zu lassen. Es ist mir schon als Junge am Wannsee nicht
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