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Seine Lordschaft lassen bitten

Titel: Seine Lordschaft lassen bitten
Autoren: Dorothy L. Sayers
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sagt, die Episode abgeschlossen.
    Was mich aber am meisten aufregte, war meine innere Unsicherheit, ob ich nicht am Ende in Southend gewesen war, ohne es zu wissen. Ich bildete mir zwar ein, ich sei krank und im Halbschlaf in meinem Zimmer gelegen, doch das ganze war für mich wie in einem Nebel. Und wenn ich an die Dinge dachte, die ich die anderen Male getan hatte – du liebe Zeit! Ich hatte keine deutliche Erinnerung, weder so noch so, nur an Fieberträume, etwa die unklare Vorstellung, ich sei irgendwo stundenlang umhergewandert und -geirrt. Ein Fiebertraum – aber vielleicht war ich auch als Schlafwandler unterwegs gewesen, nach dem, was ich von mir wußte. Ich hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, auf den ich mich stützen konnte. Es traf mich hart, daß ich meine Zukünftige auf diese Art verlor, aber ich wäre über die Sache weggekommen, wenn ich nicht immer Angst vor mir selbst gehabt hätte, oder daß ich am Ende den Verstand verlieren würde.
    Sie denken womöglich, das seien alles Hirngespinste und man hätte mich bloß mit einem verwechselt, der den gleichen Namen hatte und mir zufällig ähnlich sah. Aber jetzt werde ich Ihnen etwas erzählen.
    Von dieser Zeit an hatte ich furchtbare Träume. Vor allem träumte ich etwas, das mich schon immer verfolgte – etwas, das mich als kleiner Kerl erschreckt hatte. Meine Mutter, obwohl sie eine fromme, rechtschaffene Frau war, ging gern dann und wann ins Kino. Natürlich waren damals die Filme nicht wie heutzutage, ich glaube, wir würden die alten Streifen ziemlich primitiv finden, wenn wir sie jetzt ansehen müßten, aber damals hielten wir sehr viel davon. Als ich so ungefähr sieben oder acht war, nahm sie mich mit in einen Film – ich weiß den Titel noch, ›Der Student von Prag‹ hieß er. Die Geschichte habe ich vergessen, aber es war etwas Historisches, von einem jungen Burschen an der Universität, der sich dem Teufel verkaufte; und eines Tages trat sein Spiegelbild selbständig aus dem Glas heraus und ging herum und verübte abscheuliche Verbrechen, und alles dachte, das sei er. Wenigstens glaube ich, daß es so ungefähr war – ich habe die Einzelheiten vergessen, es ist schon so lang her. Was ich aber nicht so schnell vergessen werde, ist der Schauder, den es mir über den Rücken jagte, als ich die entsetzliche Gestalt aus dem Spiegel herauskommen sah. Es war so grausig, ich schrie und weinte, und nach einer Weile mußte mich meine Mutter hinausbringen. Monate und Jahre danach träumte ich noch davon: Ich schaute in einen großen, länglichen Spiegel – wie der Student in dem Film –, und nach kurzer Zeit sah ich mein Spiegelbild mich anlächeln. Ich ging mit ausgestreckter linker Hand auf den Spiegel zu und sah, wie ich mir entgegenkam, mit der ausgestreckten Rechten. Und gerade wenn das Bild mich erreicht hatte, plötzlich – das war der scheußliche Augenblick – drehte es mir den Rücken und glitt wieder in den Spiegel zurück. Dabei grinste es mir über die Schulter zu. Und mit einmal wußte ich, daß es die wirkliche Person war und ich nur das Spiegelbild; ich schlug hinter ihm in das Glas, alles um mich herum wurde grau und verschwommen, und ich wachte in Schweiß gebadet auf.«
    »Äußerst unangenehm«, sagte Wimsey. »Die Sage vom Doppelgänger ist eine der ältesten und verbreitetsten, und sie erschreckt mich immer wieder neu. Als ich noch ein Kind war, entsetzte mich immer eine Redensart meines Kindermädchens. Wenn wir von einem Spaziergang nach Hause kamen und gefragt wurden, ob wir jemand getroffen hatten, pflegte sie zu antworten: ›Nein, niemand Hübscheren als uns.‹ Ständig zottelte ich mit der Furcht hinter ihr her, wir könnten an der nächsten Ecke plötzlich auf ein grausig ähnliches Paar stoßen. Natürlich wäre ich eher gestorben, als daß ich einer Menschenseele erzählt hatte, wie mich die Sache ängstigte. Kinder sind schon komische Wesen.«
    Der kleine Mann nickte gedankenvoll. Dann fuhr er fort: »Etwa von dieser Zeit an kam der Alptraum zurück. Zuerst, wissen Sie, nur in Abständen, aber er wurde immer mächtiger. Zuletzt war er jede Nacht da. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, da erschien schon der längliche Spiegel, und das Etwas kam mir grinsend entgegen, immer mit ausgestreckter Hand, als wollte es mich packen und durch das Glas zu sich ziehen. Manchmal wachte ich von dem Schock gleich wieder auf, aber manchmal ging der Traum weiter, und ich mußte stundenlang durch eine sonderbare Welt
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