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Seine Lordschaft lassen bitten

Titel: Seine Lordschaft lassen bitten
Autoren: Dorothy L. Sayers
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fragte mich, woran ich mich als letztes erinnern konnte, und ich erzählte ihm, daß ich ins Kino gewollt hätte; darauf fragte er weiter, ob ich bei dem Luftangriff draußen gewesen sei. Ja, und da fiel es mir wieder ein, ich erinnerte mich an die explodierende Bombe, aber an weiter nichts. Er meinte, ich hätte einen Nervenschock erlitten und ein bißchen das Gedächtnis verloren; das geschehe oft und ich bräuchte mich deshalb nicht zu beunruhigen. Schließlich sagte er, er wolle mich untersuchen, ob ich nicht doch eine Verletzung davongetragen hätte. Er fing also an, mit seinem Hörrohr zu hantieren, bis er plötzlich stutzte.
    ›Nanu, Sie haben ja das Herz auf der falschen Seite, mein Junge!‹
    ›Was?‹ antwortete ich. ›Das ist das erste Ma l , daß ich das höre.‹
    Nun, er untersuchte mich gründlich, und am Ende sagte er dann, was ich Ihnen schon berichtet habe – daß bei mir innen alles vertauscht sei. Er fragte mich auch über meine Familie aus. Ich erzählte ihm, daß ich das einzige Kind sei und meinen Vater als zehnjähriger Junge verloren hätte – ein Lastwagen hat ihn überfahren –, daß ich mit meiner Mutter in Brixton lebe und so weiter. Und er sagte, ich sei ein ungewöhnlicher Fall, aber es bestehe kein Anlaß zur Besorgnis. Abgesehen davon, daß bei mir alles verkehrt im Leibe sitze, sei ich gesund wie ein Fisch im Wasser. Ich solle jetzt nach Hause gehen und mich ein paar Tage schonen.
    Das tat ich denn auch und dachte, damit sei die Sache erledigt. Ich hatte allerdings meinen Urlaub überschritten, und es kostete ein bißchen Mühe, meinem Vorgesetzten die Sache zu erklären. Ein paar Monate später wurde mein Regiment an die Front abkommandiert, und ich fuhr auf Abschiedsurlaub. Einmal trank ich eine Tasse Kaffee im Spiegelsaal vom Strand Corner House – Sie kennen ihn sicher, man geht die Treppe hinunter...«
    Wimsey nickte.
    »Rundum an den Wanden die großen Spiegel. Zufällig schaute ich in den einen nahe bei meinem Platz und sah eine junge Dame, die mich anlächelte, als ob sie mich kannte. Das heißt – verstehen Sie mich recht –, ich sah ihr Spiegelbild. Ich begriff nicht, warum sie lächelte, denn ich hatte sie nie zuvor gesehen. So nahm ich keinerlei Notiz von ihr und dachte, sie habe mich mit jemand verwechselt. Außerdem glaubte ich, obwohl ich damals noch sehr jung war, diese Sorte Mädchen zu kennen, und meine Mutter hatte mich immer streng erzogen. Ich schaute also weg und trank weiter meinen Kaffee, doch plötzlich sagte eine Stimme ganz nah bei mir:
    ›Hallo, Rotfuchs, willst du mir nicht guten Abend sagen?‹
    Ich sah auf, und da stand sie. Recht hübsch, wenn sie nicht so angemalt gewesen wäre. ›Es tut mir leid‹, antwortete ich ziemlich steif, ›ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, Miss.‹
    ›Oh, Rotfuchs‹, sagte sie, ›Mr. Duckworthy – und das nach Mittwoch nacht?‹ Sie hatte so eine etwas spöttische Art zu sprechen.
    Daß sie mich Rotfuchs nannte, hätte mir nicht viel Kopfzerbrechen gemacht, denn so würde jedes Mädchen zu einem Jungen mit meiner Haarfarbe sagen, aber als ihr mein Name so glatt über die Lippen ging, da gab es mir einen Ruck, das kann ich Ihnen versichern. ›Sie scheinen zu glauben, Miss, wir seien miteinander bekannt‹, sagte ich.
    ›Nun, das kann man wohl behaupten, meinst du nicht?‹ antwortete sie.
    Na ja, ich brauche nicht allzu genau darauf einzugehen. Aus ihren Worten mußte ich jedenfalls schließen, daß sie glaubte, sie hätte mich eines Abends getroffen und mit sich nach Hause genommen. Und was mich am meisten erschreckte: sie sagte, es sei am Abend des schweren Luftangriffs gewesen.
    ›Du warst es‹, sagte sie und starrte mir etwas verwirrt ins Gesicht. ›Natürlich warst du es. Ich erkannte dich gleich, als ich dich im Spiegel sah.‹
    Selbstverständlich konnte ich nicht sagen, das sei nicht wahr. Ich wußte ja von allem, was ich in der Nacht getan hatte, nicht mehr als ein neugeborenes Kind. Aber es regte mich entsetzlich auf, denn ich war damals noch ein richtiges Unschuldslamm und nie mit Mädchen gegangen, und mir schien, wenn ich schon etwas getan hätte, müßte ich es auch wissen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und gleichzeitig das Gefühl, für mein Geld nicht den vollen Gegenwert bekommen zu haben.
    Ich brachte ein paar Ausflüchte vor, um das Mädchen loszuwerden. Mich beschäftigte die Frage, was ich wohl sonst noch getan hatte. Sie konnte es mir nur bis zum Morgen des 29.
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