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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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zu sagen, tat es aber nicht.
    Nicolson sah höchst unglücklich aus, zögerte aber nicht, mit einer leisen, ruhigen Stimme zu antworten.
    »Es schien manchmal unmöglich zu sein, ihm zu gefallen. Er demütigte den Jungen für Fehler, für Torheiten, die lediglich der Unwissenheit entsprangen oder vielleicht einer gewissen Unsicherheit, einem Mangel an Selbstvertrauen. Und je verlegener ein Kind ist, um so mehr Fehler macht es natürlich. Es ist furchtbar, sich so wertlos zu fühlen, Sir, das Gefühl zu haben, einem anderen Dank zu schulden, und statt seine Schuld abzutragen zu glauben, man hätte denjenigen, der einem am wichtigsten von allen Menschen ist, enttäuscht.« Er kämpfte mit seinen Gefühlen. »Ich habe oft gesehen, wie Angus als kleiner Junge mit den Tränen kämpfte, und dann die Scham, die er empfand, wenn er sie nicht länger zurückhalten konnte und dann auch noch dafür bestraft wurde. Und er schämte sich so furchtbar, wenn er geschlagen wurde, was sehr häufig vorkam. Er hatte Angst davor, und andererseits fühlte er sich deswegen auch wie ein Feigling.«
    In der Menge unterdrückte eine Frau ein Schluchzen.
    Selina Herries hatte nicht um Caleb geweint. Sein Tod war noch zu frisch, ihre Gefühle für den Mann hin und hergerissen zwischen Stolz, Verachtung und Angst. Jetzt waren ihre Gefühle für das Kind, das er gewesen sein mußte, sehr klar. Sie ließ die Tränen ohne Scham ihre Wangen hinunterrollen und versuchte auch nicht, sie wegzuwischen.
    Enid Ravensbrooks Gesicht war aschfahl und spiegelte unerträglichen Schmerz wider, als wäre eine lange befürchtete Tragödie nun tatsächlich über sie hereingebrochen. Sie sah ihren Mann von der Seite an, aber sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. Er drehte sich nicht ein einziges Mal zu ihr um. Vielleicht wagte er es nicht, sich dem zu stellen, was er in ihren Augen lesen würde.
    Genevieve Stonefield war jenseits von Tränen, aber sie umklammerte Titus Nivens Hand, als würde sie sie vielleicht nie wieder loslassen wollen.
    »Mr. Nicolson…«, drängte Rathbone den Pfarrer zum Weitersprechen.
    Nicolson blinzelte. »Das Herz hat mir weh getan für ihn, und ich habe mich sogar dazu hinreißen lassen, Lord Ravensbrook darauf anzusprechen, aber ich fürchte, ich habe nichts Gutes damit bewirkt. Meine Einmischung hat ihn nur dazu bewogen, in Zukunft noch strenger mit ihm zu verfahren. Er glaubte, Angus habe sich bei mir beklagt, und betrachtete das als einen Akt der Feigheit wie auch des persönlichen Verrats.«
    »Ich verstehe.« Der Mann zeichnete ein Bild von solcher Eindringlichkeit, daß Rathbone keine stärkeren oder passenderen Worte fand. Was mußte sich unter der Oberfläche von Angus' ehrenwertem und aufrechtem Charakter verborgen haben? Hatte er Ravensbrook für jene Jahre des Schmerzes und der Demütigung jemals verziehen?
    Der Leichenbeschauer hatte Nicolson nicht unterbrochen und seinen Blick kein einziges Mal auf die Uhr gerichtet, aber jetzt mußte er, auch wenn es ihm widerstrebte, einschreiten.
    »Mr. Rathbone, diese vergangenen Kümmernisse sind überaus peinigend, aber bisher steht das alles dennoch in keinem Zusammenhang mit dem Tod Caleb Stonefields. Ich bin sicher, Sie sind sich dessen ebenfalls bewußt. Mr. Nicolsons Aussage hat sich lediglich auf Angus bezogen.«
    »Das liegt daran, daß er Caleb niemals mit eigenen Augen gesehen hat«, entgegnete Rathbone. »Wenn ich jetzt bitte meine letzte Zeugin aufrufen dürfte, Sir, wird sie diesen Sachverhalt erklären.«
    »Ich hoffe, das kann sie wirklich, Mr. Rathbone, denn ansonsten muß ich den Eindruck gewinnen, daß Sie nur unsere Gefühle strapaziert und sinnlos unsere Zeit verschwendet haben.«
    »Ich versichere Ihnen, es hat einen Sinn. Ich rufe Miss Abigail Ratchett in den Zeugenstand.«
    Abigail Ratchett war eine sehr stämmige Frau mit unnatürlich schwarzem Haar, wenn man bedachte, daß sie mindestens fünfundsiebzig Jahre alt war. Aber abgesehen von einer gewissen Schwerhörigkeit, trat sie sehr selbstsicher auf und schien durchaus im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu sein. Alle Blicke ruhten auf ihr.
    »Sie sind Krankenschwester, Miss Ratchett?« begann Rathbone, der sehr deutlich und bei weitem lauter sprach, als er das sonst tat.
    »Ja, Sir, und Hebamme. Zumindest war ich das früher.« Das Gesicht des Leichenbeschauers wirkte verschlossen. Goode stöhnte.
    Rathbone ignorierte beide.
    »Sind Sie Ihrer Tätigkeit nachgegangen, als Miss Alice Stonefield im
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