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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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gerade den Gerichtssaal, nachdem Sie der Verhandlung beigewohnt hatten, als der Gefängniswärter Bailey Sie darüber informierte, daß jemand verletzt worden sei und medizinische Versorgung benötigte. Ist das korrekt?« Er würde ihr nicht erlauben, sich in weitschweifigen Ergüssen zu ergehen, indem sie die Geschichte mit ihren eigenen Worten ausschmückte. Er hatte sie überaus präzise für sie zusammengefaßt.
    Rathbone fluchte in sich hinein.
    »Wenn Monk nicht binnen einer Stunde hier ist, wird die Verhandlung vorüber sein«, sagte Goode. »Wo bleibt er nur, um alles in der Welt? Gibt es heute morgen einen Frühzug von Chilverley? Soll ich nach ihm suchen?«
    Rathbone sah sich verzweifelt um. »Ich schicke einen Gerichtsdiener hin«, sagte er.
    »Mr. Rathbone!« ermahnte ihn der Leichenbeschauer mit einem Stirnrunzeln.
    »Ich bitte um Vergebung«, entschuldigte Rathbone sich mißmutig.
    Der Leichenbeschauer wandte sich wieder Hester zu. »Miss Latterly?«
    »Ja?«
    »Würden Sie bitte die Frage beantworten.«
    »Ich bitte um Verzeihung, Sir. Was war es noch gleich?«
    Sehr bedächtig wiederholte der Leichenbeschauer, was er zuvor gesagt hatte.
    »Ja, Sir«, antwortete sie. »Ich habe der Verhandlung zusammen mit Lady Ravensbrook beigewohnt.« Daraufhin wiederholte sie die gesamte Geschichte ihres Aufbruchs, kam auf Baileys Erscheinen zu sprechen, auf Enids Reaktion, sprach von ihrer eigenen Reaktion und den Anweisungen, die sie dem Kutscher gegeben hatte, und den Gründen, die sie dazu bewegen haben. Sie erwähnte auch sämtliche Alternativen und erklärte, warum diese indiskutabel waren; Enids Beteuerungen, daß sie durchaus in der Lage wäre, allein zurechtzukommen, und daß sie tatsächlich nach Hause fahren wolle, und dann ihre Rückkehr mit Bailey in das Gerichtsgebäude und ihr Eintreffen in der Zelle. Nichts konnte ihren Redefluß bremsen, obwohl der Leichenbeschauer es mehrfach versuchte. Sie schien ihn überhaupt nicht zu hören.
    Rathbone sah aus den Augenwinkeln zu Goode hinüber und bemerkte, wie erstaunt er war, daß sich so etwas wie düstere Belustigung auf seinem Gesicht ausbreitete.
    »Ja«, sagte der Leichenbeschauer grimmig. »Vielen Dank. Was haben Sie vorgefunden, als Sie in der Zelle eintrafen, Miss Latterly? Bitte, beschränken Sie sich auf die relevanten Fakten.«
    »Wie bitte?«
    »Bitte, beschränken Sie sich auf die relevanten Fakten, Miss Latterly!«
    »Auf was, Sir?«
    »Auf die relevanten Fakten, Miss Latterly!« wiederholte der Leichenbeschauer übertrieben laut.
    »Sachdienlich wofür, Sir?«
    Der Leichenbeschauer konnte sich nur mit Mühe beherrschen.
    »Für die Frage von Caleb Stones Tod, Madame.«
    »Ich fürchte, ich weiß nicht, was sachdienlich ist und was nicht«, erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nach allem, was ich beobachtet habe, sah es so aus, als sei er von einem blinden Haß auf seinen einstmaligen Vormund, Lord Ravensbrook, erfüllt, so sehr, daß er bereit war, um welchen Preis auch immer, selbst wenn das bedeutete, daß er sein eigenes Leben opferte, indem er die Todesstrafe riskierte… sicher eine überaus abscheuliche Art zu sterben… um seinem Vormund irgendeine Verletzung zuzufügen, ja sogar seinen Tod zu wünschen. Es tut mir leid. Das war ein sehr komplizierter Satz. Vielleicht sollte ich die Sache lieber anders ausdrücken…«
    »Nein!« schrie der Leichenbeschauer. Dann holte er tief Luft.
    »Das ist nicht nötig, Miss Latterly. Ihre Ansicht ist völlig klar, wenn auch nicht die Gründe, warum sie zu dieser Auffassung gelangt sind.«
    Woraufhin sie sich lang und breit über die Gründe für ihre Auffassung ausließ, ohne seinen versuchsweisen Unterbrechungen auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Sie schien schwerhörig zu sein, fast bis an die Grenze zur Taubheit. Sie beschrieb in allen Einzelheiten, welchen Eindruck Lord Ravensbrook auf sie gemacht hatte, listete jedes Symptom akribisch auf und stützte sich dabei auf ihre Erfahrung im Krimkrieg mit Soldaten, die unter Schock gestanden hatten, um zu unterstreichen, daß ihre Meinung auf Sachkenntnis beruhte. Dann beschrieb sie seine Verletzungen, ihr Aussehen und die Behandlung, die sie, Hester, Seiner Lordschaft hatte angedeihen lassen. Dann erzählte sie davon, wie sie Rathbones Hemd als Verbandsmaterial benutzt habe und warum die Hemden der Wärter dafür nicht in Frage kamen, erwähnte ihre Entschuldigungen Rathbone gegenüber für die Unannehmlichkeiten, die sie ihm
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